Vor einigen Monaten war die Welt für die Republikaner noch in Ordnung. Sie blickten zuversichtlich auf die Anfang November stattfindenden Midterm Elections, bei denen das Repräsentantenhaus, ein Drittel des Senats und einige Gouverneure neu gewählt werden. Die Grand Old Party hatte zwar die Präsidentenwahl verloren - was große Teile der Partei nach wie vor nur hinter vorgehaltener Hand zugeben würden -, aber die Voraussetzungen für eine "rote Welle", also einen republikanischen Erdrutschsieg, hätten nicht besser sein können. Präsident Joe Bidens Umfragewerte dümpelten dahin, trotz der Mehrheit in beiden Häusern scheiterten wesentliche Regierungsvorhaben am Widerstand in der eigenen Fraktion.

Biden erschien dadurch schon in der ersten Hälfte seiner Amtszeit als "lahme Ente", während die für die Stimmung im Land so wesentlichen Benzinpreise in bis dahin ungeahnte Höhen stiegen. Dazu kamen das Desaster beim Abzug aus Afghanistan und die für die Republikaner günstigen neuen Grenzziehungen von Wahlkreisen. Da die Partei des Präsidenten zudem mit fast schon gesetzmäßiger Regelmäßigkeit Stimmen bei den Midterms verliert, gingen so gut wie alle davon aus, dass die Republikaner in beiden Häusern satte Mehrheiten erringen werden. "Die Aussichten für die Republikaner bei diesen Zwischenwahlen sind kurz gesagt: gut - länger gesagt: Sie sind sehr, sehr gut", fasste der Politreporter Chris Cillizza noch Mitte Juni für den Nachrichtensender CNN die Ausgangssituation zusammen.

Momentum für die Demokraten

Doch die Stimmung hat sich seither geändert. Die Demokraten schafften es durch zähe Verhandlungen, die Blockade in den eigenen Reihen zu überwinden und zentrale Gesetze - wenn auch deutlich abgespeckt - durchzusetzen. Neben klimapolitischen Maßnahmen ist es vor allem die Deckelung von Medikamentenpreisen, die viele Menschen unmittelbar betrifft. Zuletzt hat Biden den Erlass von bis zu 20.000 Dollar an Collegeschulden pro Person angekündigt, was zwar kontroversiell diskutiert wird, aber ganz konkret bis zu 43 Millionen Personen spürbar entlasten wird. Wahlkampfmunition für die Demokraten liefert nicht zuletzt auch Ex-Präsident Donald Trump. Sein Diebstahl von Geheimdokumenten und seine Einflussnahme auf die Vorwahlen, die in einigen Staaten radikale Verschwörungstheoretiker als republikanische Kandidaten ins Rennen gespült hat, finden sich seit Wochen in den Schlagzeilen.

All dies hätte aber wohl nur Nuancen verschoben. Es ist vielmehr der größte Sieg der Republikaner, der jetzt den größten Schaden für ihre Aussichten auf eine "rote Welle" darstellen könnte. Mit der Entscheidung des zuvor von Trump mit einer konservativen Mehrheit ausgestatteten Supreme Courts, das Urteil im Fall Roe versus Wade und damit das seit 1973 verfassungsrechtlich garantierte Recht auf Abtreibung zu kippen, erreichten die Republikaner ein lange und offen verfolgtes Ziel. Die Pro-Life-Bewegung, getragen von radikal-christlichen Kräften, jubelte.

Doch Umfragen zufolge unterstützen nur rund 20 Prozent der Bevölkerung ein absolutes Abtreibungsverbot. Bei den Frauen dürften es noch weniger sein. In einem Land, in dem mehr als 31 Millionen Menschen nicht krankenversichert sind und Mutterschutz oder bezahlte Elternzeit nur einem Bruchteil der Bevölkerung zur Verfügung steht, wird Familienplanung auch als persönliche ökonomische Angelegenheit angesehen.

Die Zustimmung zu einem Recht auf Abtreibung reicht hier vor allem bei Frauen weit in die klassische republikanische Wählerschaft hinein. Für sie ist es die Einmischung des Staates ins Privatleben, die sie gegen diese Entscheidung einnimmt. "Ich war immer schon gegen einen starken Staat. Warum soll ich den starken Staat jetzt in der Praxis meines Arztes begrüßen?", äußerte etwa eine bis jetzt immer republikanisch wählende Mutter in Michigan ihren Unmut im US-Fernsehen. Sie ist noch unentschlossen, doch es könnte sein, dass sie diesmal nicht zur Wahl geht oder gar das erste Mal demokratisch wählt. Das Dilemma, in dem die Republikaner in dieser Frage stecken, bringt auch die 26-jährige Sarah aus dem tief republikanischen Kansas zum Ausdruck: "Leute wie wir mögen es nun mal nicht, wenn man uns unsere Rechte wegnimmt. Das gilt für das Recht, Waffen zu tragen, aber eben auch für das Recht, unsere Familie zu planen", sagt die 26-Jährige zu einem regionalen TV-Sender.

Frauen vernetzen sich

Schon direkt nach der Entscheidung des Supreme Court war darüber spekuliert worden, ob dies einen Mobilisierungseffekt für demokratische Wähler haben würde. Doch dass das Thema wahlentscheidend sein könnte, dachten damals die Wenigsten. Erst die überraschend eindeutige Entscheidung des Abtreibungsreferendums in Kansas Anfang August, bei dem fast 60 Prozent für ein durch die Bundesstaatsverfassung eingeräumtes Recht auf Abtreibung stimmten, ließ politische Beobachter aufhorchen. "Nach der Supreme-Court-Entscheidung waren 70 Prozent derjenigen, die sich als Wähler registrieren ließen, Frauen. Und 65 Prozent derer, die frühzeitig ihre Stimme abgegeben haben, waren Frauen", sagte der demokratische Politstratege Tom Bonier im Sender MSNBC. "Selbst für jemanden, dessen Beruf das ist, war dieses Ergebnis überraschend."

Der hohe Anteil weiblicher Neuregistrierungen findet sich nicht nur in Kansas. Laut dem Datenportal L2 und der "New York Times" haben sich nach der Höchstgerichtsentscheidung in mindestens neun Staaten deutlich mehr Frauen als Männer als neue Wähler registrieren lassen (siehe Grafik). Und der Anteil steigt weiter, nachdem mehr und mehr Bundesstaaten von der ihnen vom Supreme Court eingeräumten Möglichkeit Gebrauch machen, strenge Abtreibungsgesetze zu verabschieden.

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Dass sich immer mehr Frauen als Wählerinnen registrieren lassen, ist zu einem großen Teil auch Initiativen wie "Red Wine and Blue" geschuldet, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, isolierte demokratische Frauen in republikanischen Gebieten zu vernetzen. "Wir bauen durch persönliche Kontakte Vertrauen auf und finden Multiplikatorinnen, die wiederum persönliche Kontakte haben", erklärte Gründerin Jessika Graven bei einem Zoom-Event, das den Start der Kampagne in North Carolina begleitete. An der Online-Veranstaltung hat auch Renee Sehel teilgenommen. Sie sei eine klassische Vorstadthausfrau gewesen, bis die rechtsradikalen Proud Boys in der Schulbibliothek ihrer Kinder aufgetaucht seien und progressive Bücher "beschlagnahmt" hätten, erzählt die 40-Jährige aus North Carolina. Seither engagiert sie sich im Elternverein und kam dadurch zu "Red Wine and Blue".

Mit über 750.000 Unterschriften war es den Fraueninitiativen zuletzt auch gelungen, gegen den erbitterten Widerstand der Republikaner durchzusetzen, dass in Michigan bei den Midterms auch über das Abtreibungsrecht abgestimmt werden kann. Das Referendum in Michigan ist nicht der einzige politische Erfolg der Abtreibungsbefürworterinnen. Bereits bei der Wahl für einen außerordentlichen Kongresssitz in Upstate New York Ende August war es dem Demokraten Pat Ryan mit einem Pro-Choice-Wahlkampf gelungen, den bis dahin republikanischen Sitz knapp zu gewinnen. Und auch bei der Entscheidung gegen Sarah Palin in Alaska hat das Thema laut den Demoskopen eine Rolle gespielt.

Alarmierte Republikaner

In den vergangenen Wochen ist das Recht auf Abtreibung neben der Rettung der Demokratie daher auch zum wichtigsten Wahlkampfthema der Demokraten geworden. In vielen Swing States stecken die Demokraten viele Millionen Dollar in TV-Werbespots zu dem Thema. Und auch Joe Biden selbst setzt im Wahlkampf auf die Frauen. Die Republikaner "unterschätzen die Macht der Frauen", erklärte der Präsident erst vor kurzem bei einer Wahlveranstaltung.

In acht Wochen kann sich noch vieles ändern. Aber die Mehrheiten sind vielerorts so knapp, dass die Republikaner alarmiert sind. Der Senatskandidat aus Arizona, Blake Masters, und der Kandidat für einen Kongresssitz für Michigan, Tom Barrett, haben letzte Woche das Abtreibungsthema stillschweigend von ihren Wahlkampfseiten entfernt. Reihenweise werden die Ehefrauen von republikanischen Kandidaten vor die Kameras und auf die Tribünen geholt, um Wählerinnen zu versichern, ihre Männer seien ganz sicher nicht gegen Frauenrechte. Und in South Carolina scheiterte am 9. September die als ausgemacht geltende Verschärfung des ohnehin strengen Abtreibungsgesetzes an den eigenen republikanischen Abgeordneten.

Den neuen Realitäten beugen wollen sich aber nicht alle Republikaner. So hat Lindsey Graham, der Senator von South Carolina, nur wenige Tage später einen Entwurf für ein bundesweites Abtreibungsgesetz eingebracht. Der Vorschlag des Trump-Weggefährten hatte zwar von Beginn an keine Chance im Kongress, half dafür aber dem Präsidenten aus der Patsche. Denn plötzlich war nicht mehr von den neuen besorgniserregenden Inflationsdaten die Rede, die gerade Bidens feierliche Ansprache zur Verabschiedung seines Anti-Teuerungspaketes konterkarierten, sondern von Grahams unglücklich lanciertem Abtreibungsvorstoß.