Es ist mittlerweile fast zum Ritual geworden: Der US-Präsident gibt einem Vertreter seiner Administration einen Befehl, der rechtlich fragwürdig ist. Was folgt, ist ein öffentlicher Aufschrei, der keine 24 Stunden später Klagen sonder Zahl zeitigt; mal erhoben von den obersten Staatsanwälten der Bundesstaaten, mal von Mitgliedern des Abgeordnetenhauses, mal von Nicht-Regierungsorganisationen - und meistens von einer Kombination aller drei.

In der Regel handelt es sich dabei um Anordnungen, die Donald Trumps Leib- und Magenthema angehen: Alle wirklichen und eingebildeten sich im Land befindlichen Ausländer, deren einziges Ziel angeblich darin besteht, das Land in den Ruin zu treiben.

Die jüngste Volte in diesem Zusammenhang schlug Trump am 21. Juli, und setzen er und seine Handlanger im Kongress ihren Willen durch, würde es die Chancen letzterer auf eine Wiederwahl in den kommenden zehn Jahren dramatisch erhöhen. Möglich macht’s nicht die am 3. November anstehende Präsidentschaftswahl, deren Vorgeplänkel schon jetzt alles in ihren Bann schlägt, sondern die alle zehn Jahre und deshalb auch 2020 in den USA stattfindende Volkszählung.

Das diesbezügliche Memorandum, das Trump seinem Handelsminister Wilbur Ross schickte - die Bekanntgabe der Ergebnisse des Zensus fällt in den Zuständigkeitsbereich des 82-jährigen Ex-Bankers -, ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Trumps Auftrag: Alle im Zuge der Erhebung erfassten, ohne Aufenthaltsberechtigung in den USA lebenden Menschen einfach nicht zu zählen. Auch wenn es über die Zahl nämlicher keine endgültige Gewissheit gibt, wird sie von den Demografie- und Statistikexperten auf zwischen elf und zwölf Millionen geschätzt, von derzeit insgesamt rund 328 Millionen Menschen. Seit der Inhalt des Memorandums bekannt wurde, laufen die Demokraten dagegen Sturm.

"Das Abgeordnetenhaus wird sich energisch gegen diesen unkonstitutionellen und ungesetzlichen Versuch wehren, die Volkszählung zu verfälschen", ließ Nancy Pelosi, demokratische Mehrheitssprecherin im Unterhaus, dem Repräsentantenhaus umgehend ausrichten.

Bei der Dringlichkeitssitzung des mächtigen House Oversight and Reform Committee vergangenen Mittwoch wurden vier frühere Direktoren der Volkszählungsbehörde befragt: Alle vier erklärten, das Memorandum von Trump, dass nur Menschen mit "legalem Status" gezählt werden, für "verfassungswidrig". Denn das Grundgesetz sagt ganz deutlich, dass alle in den USA lebenden Menschen gezählt werden müssten. Auch Migranten ohne Aufenthaltsstatus.

Bereits drei entsprechende Klagen sind gegen den Befehl Trumps vor Bundesgerichten anhängig.

Volkszählung entscheidet über Ressourcen und Repräsentation

Der Grund, warum die seit Trumps Amtsantritt im Jänner 2017 wegen der Erosion der demokratischen Grundordnung ohnehin im Dauerton läutenden Alarmglocken diesmal ohrenbetäubend sind, liegt in der Natur der Sache. Das Ergebnis der Volkszählung entscheidet über die Verteilung des Löwenanteils der Ressourcen der Bundes- und jeweiligen Bundesstaatsregierung wie über die Ansprüche auf politische Repräsentation für die gesamte kommende Dekade. Letzteres ist für die Zusammenstellung der Wahlkreise des Abgeordnetenhauses und für künftige Präsidentschaftswahlen von enormer Wichtigkeit: Wo die Zahl der tatsächlich in einem Bezirk lebenden Menschen nicht korrekt gezählt wird - und in einem Riesenland wie den USA, wo es keine Meldepflicht gibt, ist das schon in Zeiten ohne globale Pandemie schwer genug -, ergibt sich eine demografische Schieflage mit potenziell fatalen Folgen. Trumps diesbezügliche Strategie gestaltet sich entsprechend. Auswirkungen hat es zwar nicht für die Wahl dieses Jahr, aber für die Wahl zum Repräsentantenhaus 2022.

Schon jetzt tun Trump und die Republikaner alles dafür, um im November Millionen Wähler vom Urnengang abzuhalten, indem sie diesen die Briefwahl verweigern, sie ohne ihr Wissen von Wählerlisten streichen lassen und Wahllokale in demokratischen Hochburgen gezielt schließen. Bei der Volkszählung wollen sie quasi dasselbe mit anderen Mitteln erreichen. Erstens sollen nach ihrem Gutdünken so wenig Menschen wie möglich gezählt werden, die Minderheiten angehören, weil die nicht nur tendenziell Demokraten wählen, sondern auch, wenn sie es nicht tun, überproportional in Bundesstaaten leben, die liberal regiert werden. Zweitens sollen so viele weiße Amerikaner wie nur irgend möglich gezählt werden, weil von ihnen statistisch gesehen gestern wie heute jeder zweite verlässlich Trump wählt. Dabei ist die undemokratische Praxis des Gerrymandering, des kalkulierten neuen Ziehens von Wahlsprengeln, dank der sich die Konservativen im vergangenen Jahrzehnt mehrmals Mehrheiten im Kongress erschlichen haben, noch gar nicht eingerechnet.

Während die Volkszählung für die Wahlen zum Repräsentantenhaus (das derzeit demokratisch dominiert ist) und für die Präsidentschaftswahlen wichtig ist, spielt der Zensus für den Senat fast keine Rolle. Weil jeder Bundesstaat ungeachtet seiner Einwohnerzahl zwei Senatoren bekommt, zählt das ultra-konservative Wyoming mit seinen 600.000 Einwohnern ebenso viel wie die 40 Millionen Menschen im liberalen Kalifornien. Wenn es den Republikanern gelingt, die Klagen gegen Trumps Zensus-Strategie abzuschmettern, käme dieses Gefälle künftig vermehrt auch bei der Zusammensetzung des Unterhauses zum Tragen. Also dass die Stimmen der Bundesstaaten ungeachtet der Bevölkerungszahl in etwa gleich zählen. Das ist natürlich, wie erwähnt, nicht zuletzt bei künftigen Präsidentschaftswahlen ausschlaggebend, weil das Staatsoberhaupt nach dem Wahlmänner-System vergeben wird und die Zahl Letzterer unter anderem auf das Ergebnis der Volkszählung zurückgeht.

Ethnische Minderheiten werden chronisch unterzählt

Nicht, dass die heurige Volkszählung das Projekt für die nächsten Jahre ruhen lässt. Laufende Erhebungen wie das American Community Survey (ACS) sorgen dafür, dass die demografischen Realitäten in den USA auch zwischen den Zeitpunkten der Volkszählung aktuell, aber vor allem akkurat erfasst werden. Angesichts der Geschichte des Zensus keine Selbstverständlichkeit.

Bis nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden bis zu zehn Prozent der in den USA lebenden Afroamerikaner von den Demografen einfach "vergessen". Erst mit Präsident Dwight D. Eisenhower, unter dessen militärischer Führung Millionen Angehörige von ethnischen Minderheiten im Kampf gegen Nazi-Deutschland dienten, begann sich die Lage langsam zu bessern. Bis das Census Bureau - die mit einem Budget von rund 6,3 Milliarden Dollar ausgestattete, für die Volkszählung verantwortliche Bundesagentur - das systemimmanente "Undercount", die "Unterzählung", überwinden konnte, dauerte es bis in die Achtzigerjahre.

Aber auch dieser relative Erfolg währte nur kurz. Die Volkszählung 1990 etwa endete mit tausenden Klagen vor Bundesgerichten. Obwohl damals, wie schon bald danach bekannt wurde, fast fünf Millionen Menschen ungezählt geblieben waren, erkannte die damalige Administration von George H.W. Bush das offizielle, falsche Ergebnis an. Damals wie heute nicht aus uneigennützigen Motiven. Schon seinerzeit wählten die Angehörigen von ethnischen Minderheiten lieber die Demokraten als die Republikaner - und wenn es darum geht, sich in diesem Zusammenhang einen Vorteil zu erschleichen, unterscheiden sich die heutigen Rechtspopulisten von ihren vermeintlich moderaten Vor-Vorgängern am Ende halt doch nur im Ton.