Wenn man nichts mehr werden kann und will, redet es sich halt doch um einiges leichter. Nach John Kasich, dem republikanischen Ex-Gouverneur von Ohio am Montag, folgten am zweiten Tag der Democratic Convention 2020 weitere, von den Organisatoren als "Überraschungsauftritte" verkaufte Appelle ehemaliger namhafter Parteigänger der Konservativen, die dazu aufriefen, diesmal doch ausnahmsweise Joe Biden die Stimme zu geben. Kurz vor Beginn der Prime-Time-Übertragung waren Wortspenden von George W. Bushs ehemaligem Außenminister Colin Powell und von Cindy McCain, der Witwe des langjährigen Senators von Arizona und erfolglosen Präsidentschaftskandidaten John McCain, angekündigt worden. Warum das Wort Überraschung angesichts der Qualität dieser Gäste unter Anführungszeichen stehen muss, ergibt sich aus der Tatsache, dass sie entweder schon lange nichts mehr mit der Politik zu tun und entsprechend nichts mehr zu verlieren haben (Powell), beziehungsweise jahrzehntelang ohnehin nur als unbedanktes Maskottchen eines bis heute aus weitgehend unerfindlichen Gründen von den Medien als "Rebellen" punzierten Republikaners dienten (McCain).

Es ist zudem kein Geheimnis, dass diese Konservativen mit Donald Trump nicht können. Schon vor der Wahl 2016 hatte Powell davor gewarnt, dass sich die USA mit der Wahl des Ex-Reality-TV-Stars "lächerlich machen und blamieren" würden. Trumps Angriffe auf McCain selbst über dessen Tod hinaus sind längst Legende. Sei's drum: Passend zum Tagesmotto "Leadership matters" strich das Einwandererkind Powell – seine Mutter kam einst aus Jamaika in die USA und zog den nachmaligen Army-General in der damals berüchtigten New Yorker South Bronx auf – in seiner Rede Joe Bidens Führungsqualitäten hervor und versicherte dem Rest der Welt, dass die USA im Fall seiner Wahl ihrer globalen Führungsrolle, die sie unter der jetzigen Administration verloren hätten, wieder gerecht werden würden. In die gleiche Kerbe schlug John Kerry, Ex-Außenminister und 2004 gescheiterte Präsidentschaftskandidat. Dass es ausgerechnet den 76-jährigen brauchte, um dem Rest der Welt die Binsenweisheit zu verkaufen, dass "man Demokratie nicht exportieren kann, wenn man sie selber nicht praktiziert", bleibt indes ebenso das Geheimnis der Organisatoren des Democratic National Comittee (DNC).

Menschliche Qualitäten als Alleinstellungsmerkmal im Wahlkampf 2020

Cindy McCain beschränkte sich derweil – unterlegt von einem mit Archivbildern gespickten Video ihres im August vor zwei Jahren verstorbenen Mannes – auf die menschlichen Qualitäten Bidens, den mit dem Republikaner eine lebenslange Freundschaft verband. Den Höhepunkt des Tages, der wie der erste von einer Schauspielerin moderiert wurde, die einer ethnischen Minderheit angehört (Tracee Ellis Ross, Tochter der Musiklegende Diana Ross, "Girlfriends", "Black-ish"), stellte aber die Rede von Doktor Jill Biden dar.

Die zweite Frau Joe Bidens, geborene Jacobs und im Zivilberuf Lehrerin an einem Community College in einem Vorort der Hauptstadt, porträtierte ihren vom Leben nicht nur einmal heftig gebeutelten Ehemann – er verlor seine erste Frau Neilia 1972 bei einem Autounfall, bei dem auch seine einjährige Tochter Naomi ums Leben kam, der gemeinsame Sohn Beau starb 2015 an einem Gehirntumor – als jenes einfühlsame Stehaufmännchen, dessen natürlicher Empathie kein noch so harter Schicksalsschlag etwas anhaben kann. Im Gegensatz zum Gros ihrer Vorredner blendete Frau Biden – vor der Kulisse jenes betont durchschnittlichen Klassenzimmers, in dem sie bis heute unterrichtet – jegliche auch nur potenziell polarisierende politische Botschaft aus und beschränkte sich ganz auf die "soften" Eigenschaften des Kandidaten.

In die Kerbe gegen Trump schlug dagegen Sally Yates, ehemalige stellvertretende Justizministerin unter Obama und bis zu ihrer Demontage unter Trump Kurzzeit-Justizministerin, die 2017 die Implementierung des sogenannten "Muslim Ban" verweigerte. Die Zukunftshoffnung der Demokraten aus Georgia, mittlerweile wieder als einfache Anwältin in Atlanta tätig, erinnerte die Zuschauer an die unzähligen illegalen – und teilweise von der konservativen Mehrheit im Supreme Court im Nachhinein für rechtlich einwandfrei erklärten – Verordnungen des Präsidenten, "der glaubt, dass die USA sein Privateigentum sind, mit dem er machen kann, was er will". Was folgte, war ein geschlossener Aufmarsch des demokratischen Partei-Establishments und seiner Altstars. Angeführt von Chuck Schumer, dem Sprecher der Minderheitsfraktion im Senat, kamen nacheinander Caroline Kennedy und ihr Sohn Jack Schlossberg (Tochter und einziger Enkel des 1963 ermordeten Präsidenten John F. Kennedy), Jimmy Carter (Präsident 1977-1980) und seine Frau Rosalynn sowie Bill Clinton (Präsident 1993-2000) zu Wort.

Trump frontal griffen nur Schumer und letzterer an, indem sie mit dessen desaströsem Umgang mit der Coronavirus-Pandemie abrechneten: "Seine absolute Entschlossenheit, jegliche Verantwortung von sich zu schieben, ist einzigartig." Als Kontrast erinnerte Clinton an die Leistungen Bidens als Vizepräsident unter Barack Obama, die sich bei ihrem Amtsantritt der größten Finanzkrise seit der Großen Depression der Dreißigerjahre gegenüber sahen und das Land in Folge wieder auf die Beine gestellt hätten. Weiter ging es mit dem sogenannten "Roll Call", im Rahmen dessen ausgewählte Repräsentanten der einzelnen Bundesstaaten ihre Wahlmänner-Stimmen bekannt gaben – eine Tradition, die selbst in Zeiten, in denen Conventions nur mehr als Krönungsmessen der bereits im Vornhinein ausgeschnapsten Präsidentschaftskandidaten dienen, aufrecht erhalten wird.

Mit ein bisschen Spannung war dabei die Rede von Alexandria Ocasio-Cortez erwartet worden, Abgeordnete im Repräsentantenhaus für den 14. Wahlbezirk von New York und einzige Nachwuchshoffnung der Partei mit nationaler Strahlkraft.

Die eine Minute, die ihr die Organisatoren des Democratic National Comittee (DNC) auf der Convention-Bühne zugestanden hatten, nutzte die 30-jährige mit einer so kurzen wie staatstragenden Botschaft: Mit einem Wirtschaftsmodell, das fast zur Gänze auf die Umverteilung von unten nach oben ausgerichtet ist, sei im 21. Jahrhundert kein Staat mehr zu machen, und schon gar nicht der amerikanische.

Nachdem Bidens Heimat-Bundesstaat Delaware seine Stimmen abgegeben hatte, stand die Wahl des 77-Jährigen Biden zum Kandidaten der Demokratischen Partei fürs Weiße Haus am 3. November auch formal fest. Seine Danksagung dauerte keine halbe Minute. Bidens große Rede wird er erst zum Schluss der Convention am Donnerstag geben.