Wie viel ist von den USA, wie man sie kannte, eigentlich noch übrig? Vom Hort von Demokratie und Menschenrechten, der "the world save for democracy" machen, Demokratie in der Welt verbreiten wollte? Von jener außereuropäischen Macht, die in Europa zweimal einen Weltkrieg entschieden hat, von der Schutzmacht der Freien Welt, die im Kalten Krieg die Sowjetunion in Schach hielt, bis die Freiheit über den Zwang triumphierte?

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Das Ansehen der Supermacht hat in den letzten vier Jahren gelitten. Der republikanische Präsident Donald Trump, heißt es, habe mit der Rolle der USA als Führungsmacht der Freien Welt gebrochen. Mit seiner "America first"-Politik habe der US-Präsident, so wird in Europa geklagt, seine Bündnispartner vor den Kopf gestoßen. Handelskriege zettelte der Milliardär im Weißen Haus nicht nur mit dem Hauptrivalen China an, sondern auch mit der EU, die er eher als Konkurrent denn als Verbündeten wahrnahm. Selbst die Sicherheitsgarantie, die die USA Europa über Jahrzehnte gegeben haben, ist plötzlich in Frage gestellt: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bezeichnete die Nato bereits als "hirntot".

 

Panik in Europa

Dabei war das westliche Verteidigungsbündnis über Jahrzehnte eine verlässliche Konstante in der internationalen Politik, eine Organisation, die kerngesund schien und die noch dazu nach Osten expandierte. Doch Trumps unsentimentale Politik dem alten Kontinent gegenüber, die vor allem das eigene Interesse im Blick hatte, löste bei vielen europäischen Nato-Partnern Panik aus. Die Hauptsorge des Milliardärs im Präsidentenamt schien die zu sein, dass die europäischen Nato-Partner zwar die Sicherheitsgarantien der USA in Anspruch nehmen, selbst aber für ihre eigene Sicherheit nicht genug Geld ausgeben möchten.

Es ist eine Klage, die Trump freilich nicht als Erster ausgesprochen hat: Seit Jahrzehnten schon wird vor allem in neokonservativen Kreisen in den USA über die mangelnde Wehrwilligkeit der Europäer die Nase gerümpft, während sich Europäer über das unilaterale Vorgehen der US-Amerikaner echauffieren. Europa habe sich in einem "posthistorischen Paradies" von Frieden und Wohlstand eingerichtet, in einer kantianischen Utopie des ewigen Friedens, urteilte der neokonservative US-Politologe Robert Kagan schon 2003 in seinem Buch "Macht und Ohnmacht".

 

Hobbes versus Kant

Die USA hätten dagegen eher ein Weltbild, das dem des englischen Philosophen Thomas Hobbes entspreche - ein kühles, realistisches, das von einer Art "Krieg aller gegen alle" ausgeht. Dementsprechend scheut man sich nicht, zur Durchsetzung eigener Interessen auch die wirtschaftliche und militärische Macht einzusetzen, über die man verfügt. Ersteres hat Donald Trump in den letzten vier Jahren mit seinen Handelskriegen und Wirtschaftssanktionen eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Militärisch wurde Trump allerdings - bis auf zwei kurze Militärschläge in Syrien, die einer Art Warnschuss glichen - bis heute nicht aktiv. Im Gegenteil schien er die Ankündigungen, die er in seinem Wahlkampf gemacht hat, umzusetzen: eine Politik des Rückzugs aus Krisengebieten wie Syrien oder Afghanistan. Ein vermehrtes Konzentrieren auf sich selbst in einer Art Neo-Isolationismus. Damit wurde Platz für konkurrierende Mächte frei, wie etwa Russland in Syrien.

An der Schwelle zum Krieg

Heinz Gärtner, US-Experte am Wiener International Institute für Peace (Internationales Institut für den Frieden, IIP), relativiert diesen Befund aber: "Der US-Rückzug, das war eher Ankündigungspolitik, um den isolationistischen Flügel bei den Republikanern zu befriedigen", sagt der Politologe von der Universität Wien der "Wiener Zeitung". Immer noch stünden US-Truppen in Afghanistan und im Irak, auch die Spezialeinheiten in Syrien seien geblieben.

Einzig die Rolle als Schutzmacht der Kurden habe man aufgegeben - was die Glaubwürdigkeit Amerikas in Nahost wohl nicht erhöht hat. Mit dem Iran und auch Nordkorea seien die USA unter Trump sogar an der Schwelle eines Krieges gestanden - wie schon unter seinem Vorgänger Barack Obama in Syrien. Obama ließ auch in Libyen intervenieren und stürzte das Land damit ins Chaos.

 

Nicht mehr "einzige Weltmacht"

Vom Status der "einzigen Weltmacht", wie der US-Geopolitiker Zbigniew Brzezinski die USA in den 1990er Jahren bezeichnete, ist nicht mehr viel geblieben. China macht den USA den Rang als führende Wirtschaftsweltmacht streitig, Russland modernisiert sein Militär und reagiert gereizt auf die Expansionspolitik des Westens an seiner Grenze. Dazu kommen noch aufstrebende Mächte wie Indien oder Iran, dem die USA unter Ex-Präsident George W. Bush im Irak den Weg freigebombt und neue Einflussmöglichkeiten geschaffen haben. Eine ziemlich ungeordnete, gärige, multipolare Welt ist im Entstehen, und Trump hat durch sein undiplomatisches Vorgehen seinen Anteil daran.

Diese Welt beschränkt sich aber nicht auf Europa, konkreter: die EU-Staaten West- und Mitteleuropas rund um Deutschland und Frankreich, die mit Trump im Clinch liegen. Schon Großbritannien pflegt zu den USA das traditionell gute Verhältnis, und die Staaten Ostmitteleuropas, allen voran Polen, die eigentlich über Trumps gelegentliches Flirten mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin hoch besorgt sein sollten, setzen auf den Immobilienmogul als ihren besten Freund. Nicht ganz zu Unrecht, denn Trump hat sich stets eindeutig hinter Polen gestellt und Truppen dorthin entsandt. "Von der angeblichen Freundschaft Trumps zu Putin findet sich in den strategischen Konzepten der US-Sicherheitsdienste jedenfalls nichts", sagt Gärtner.

Für Israel ist Trump ein Freund

China sei dort als Hauptgegner beschrieben, ökonomisch und auch schon militärisch. "Dann kommt Russland, die nukleare Hauptbedrohung. Und dann die restlichen ,Schurkenstaaten‘ wie Nordkorea und der Iran." Der Flirt zwischen Kim und Trump änderte daran nichts. Insofern scheint auch die Nato noch funktionsfähig - trotz Warnungen mancher, eine weitere Präsidentschaft Trumps würde deren Zerfall bedeuten.

Außerhalb Europas scheint ohnehin zweifelhaft, ob die USA unter Trump wirklich so sehr an Ansehen eingebüßt haben. Für Israels Premierminister Benjamin Netanjahu ist Trump ein Freund, und die autoritären arabischen Staaten haben vor Trumps ruppiger Art eher mehr Respekt, als dass sie ihn dafür verachten.

 

Friedensdeals mit Arabischen Staaten

Die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain haben unter Trumps Vermittlung Vereinbarungen mit Israel erzielt, zuletzt kam auch noch der Sudan dazu, der dafür von der US-Terrorliste gestrichen wurde. Auch asiatische Staaten wie Südkorea oder Japan haben mit Trump kein großes Problem, ebenso wenig wie Australien. Die Entrüstung beschränkt sich weitgehend auf Westeuropa und Kanada, also die engsten Verbündeten - die unter einem Präsidenten Biden zwar freundlichere Töne zu hören bekommen würden. Was aber nicht heißt, dass im Verhältnis zu den USA alles wieder im Lot wäre. Wohl jeder US-Präsident würde auf mehr Engagement der Europäer innerhalb der Nato drängen. Auch Biden schlägt gegenüber China scharfe Töne an, und der Konflikt mit Russland würde sich unter seiner Präsidentschaft ohnehin verschärfen.

Die "Schurkensupermacht"

Die Probleme Amerikas gehen aber tiefer. "Die USA sind heute nicht mehr die ,shining city upon the hill‘, von der Ex-Präsident Ronald Reagan in Anlehnung an eine Predigt des Puritaners John Winthrop gesprochen hat", sagt Gärtner. "Wie sich in der Corona-Krise gezeigt hat, entspricht die Infrastruktur der USA nicht westlichen Standards. Das Gesundheitssystem, das Erziehungssystem sind marode", analysiert der Politologe.

Der amerikanische Exzeptionalismus, die tief verwurzelte Vorstellung, das weltweit beneidete Vorbild zu sein, der Staat, der der ganzen Welt die Richtung weist - eine Vorstellung, in der sich ursprünglich puritanischer, später demokratischer Moralismus und imperiale Ambitionen überlappen -, er ist immer noch quicklebendig, findet heute aber kaum Entsprechung in der Realität. Zwar verfügen die USA immer noch über das schlagkräftigste Militär und Führerschaft im High-Tech-Bereich, wenn man an Weltkonzerne wie Google oder Apple denkt - Assets, die das ebenfalls absteigende Europa nicht hat. Dennoch zeigt die Tendenz nach unten. Und die aggressiven Töne, die in manchen Washingtoner Polit-Zirkeln angeschlagen werden, deuten nicht darauf hin, dass sich die USA mit ihrem Abstieg einfach so abfinden werden. Der US-Politologe Michael Beckley spricht von den USA sogar als "rogue superpower", als "Schurkensupermacht" - unabhängig vom Präsidenten. "Der Multilateralismus", resümiert Gärtner, "ist tot."