Ob Donald Trump US-Präsident bleibt oder ob sein Herausforderer Joe Biden ins Weiße Haus einzieht, hängt von Millionen Stimmen ab, die am Donnerstagfrüh  noch nicht ausgezählt, der Sieger stand nicht fest.

Noch nicht erklärt sind die Staaten Pennsylvania (20 Wahlleute), North Carolina (15), Georgia (16) und Nevada (6). In der Nacht auf Donnerstag verdichteten sich aber die Erfolge von Biden, Michigan wurde wieder demokratisch. 

Darauf reagierte Trump mit Klagen. Er hatte ja schon am Mittwoch den Sieg für sich beansprucht, ohne dass dafür eine faktische Grundlage vorhanden war. 

Trump versucht nun im Bundesstaat Georgia, ein Gericht in die Auszählung der Stimmen bei der Präsidentenwahl eingreifen zu lassen. Der Präsident und die Republikanische Partei reichten am Mittwoch (Ortszeit) eine Klage im Chatham County des Bundesstaates ein. Darin forderten sie, das Gericht solle in dem Bezirk für eine strikte Abtrennung von Briefwahlunterlagen sorgen, die nach dem Ende der Stimmabgabe am Dienstagabend eintrafen.

Trumps Wahlkampfteam begründete den Schritt damit, dass laut einem Beobachter 53 Stimmzettel illegal zum Stapel rechtzeitig eingetroffener Wahlunterlagen hinzugefügt worden seien. In Georgia dürfen - anders als in mehreren anderen Bundesstaaten - per Post verschickte Stimmzettel nur ausgezählt werden, wenn sie vor Schließung der Wahllokale eintrafen.

Trump und die Republikaner hatten am Mittwoch bereits Klagen in anderen umkämpften Bundesstaaten eingereicht. Unter anderem forderten sie, in Pennsylvania und Michigan die weitere Auszählung der Stimmen auszusetzen, bis ihre Wahlbeobachter besseren Zugang zu dem Verfahren bekommen. In Wisconsin wollen sie eine Neuauszählung.

Auch wenn letztlich eine Person gewinnen wird: Klar auf der Hand liegt die Tatsache, dass es äußerst knapp wird, und dass der überwältigende Sieg, den sich die Demokraten erhofft hatten, nicht eingetreten war. Biden musste Florida dem Republikaner überlassen - ein schwerer Schlag, denn hier hatten sich die Demokraten große Hoffnungen gemacht und viele Ressourcen investiert.

"Verlieren ist niemals leicht für mich"

Auch Texas ging an Trump, der damit - anders als von vielen prognostiziert - stark im Rennen blieb. Und der diesen Umstand nutzte, um Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Wahl zu säen.

Die Annahme des amtierenden Präsidenten ist, dass die Zeit gegen ihn arbeitet. Denn die Briefwahl-Stimmen werden eher Biden zugeordnet. Dass dieser Umstand offensichtlich wird, will Trump offenbar mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verhindern.

Der Präsident sprach in seiner ersten Rede nach Wahlschluss von einem angeblichen "Betrug an der Nation" sowie "am amerikanischen Volk". Man werde, so Trump, "vor den Supreme Court ziehen". Dort hat der Präsident einen wichtigen Heimvorteil: Sechs der neun Richter stehen den Republikanern nahe. Man wolle, "dass alles Wählen endet". "Millionen über Millionen" hätten für ihn gestimmt, erklärte Trump. "Und eine sehr traurige Gruppe an Menschen will diese Gruppe entrechten."

Via Twitter hatte er zuvor verlautet, dass die Republikaner in Führung lägen, die Demokraten würden aber versuchen, "die Wahl zu stehlen". Schon zuvor das Geständnis: "Gewinnen ist leicht. Verlieren ist niemals leicht. Nicht für mich." Später am Tag erklärte Trumps Wahlkampfteam, bei einem Gericht einen vorläufigen Stopp der weiteren Auszählung in Michigan zu beantragen. Kurz danach ist es auch in Pennsylvania vor Gericht gezogen.

In Bidens Mannschaft hat man mit einem derartigen Szenario gerechnet. Hier nennt man die Vorgangsweise des amtierenden US-Präsidenten "skandalös" und "beispiellos". Biden selbst meinte, die Demokraten seien "auf Kurs, die Wahl zu gewinnen", er rief seine Anhänger zu Geduld auf. Denn in jedem Bundesstaat gelten andere Regeln, wie und wie lange ausgezählt wird.

Die Demokraten würden die Versuche Trumps, die Wahl zu stoppen, ebenfalls anfechten. Damit würde ein juristischer Krieg drohen, der sich hinziehen könnte. Spätestens am 8. Dezember aber muss ein Wahlergebnis nach Washington gemeldet werden.

Einen Wahlsieger wird es geben, wenn die Nachrichtenagentur AP - die für ihre Unabhängigkeit und Genauigkeit geschätzt wird und die enorm viele Ressourcen in die Erhebung der Resultate investiert - einen der beiden Kandidaten namhaft macht. Das ist bis dato nicht geschehen. Auch die führenden TV-Stationen Fox News und CNN haben sich im Verlauf des Mittwochs nicht geäußert.

Es geht darum, dass viele Staaten wegen der Corona-Pandemie nur wenige Monate vor der Abstimmung die Regeln für die Briefwahl - die Abläufe oder Fristen - geändert haben. Die Demokraten wollten das Abstimmen möglichst leicht machen, die Republikaner, die weniger Briefwähler mobilisieren können, aus naheliegenden Gründen nicht.

Hier wird Trump unter Umständen ansetzen. Einige Klagen hat es schon gegeben, mehrere Fälle liegen beim Obersten Gerichtshof. Trump behauptet, dass es bei der Briefwahl Betrug gebe - Beweise hat er keine anführen können.

Gerichte befinden über Zulassung von Stimmen

In den USA gibt es keine bundesweite Wahlbehörde und keinen zentralen Wahlleiter. Hier sind allein die Bundesstaaten zuständig. Deshalb werden Trumps Anfechtungen, sollten sie kommen, zunächst von einem Gericht in dem jeweiligen Staat entschieden. Wobei die Richter - auch die am Supreme Court - nicht über den Ausgang der Wahl entscheiden können. Sie können aber über Fristen, die Regeln der Auszählung und die Zulassung von Stimmen befinden. So könnte Trump etwa behaupten, dass die Computer, über die die Auszählung läuft, manipuliert seien. Immer wieder sorgt schadhafte Software tatsächlich dafür, dass sich die Auszählung verzögert.

In der jüngeren US-Geschichte gibt es bereits ein Beispiel, dass die Richter eine Wahl entschieden haben. Ob bei der Wahl im Jahr 2000 George W. Bush oder Al Gore der nächste Präsident würde, hing damals nur am Auszählungsergebnis in Florida. Die Wahlmaschinen erwiesen sich damals als sehr fehleranfällig. Der Rechtsstreit um das Ergebnis und Neuauszählungen zog sich einen Monat hin und ging bis vor das Oberste Gericht in Washington. Schließlich gewann Bush mit nur 537 Stimmen Vorsprung.

Kommentatoren betonen, dass Trump beim Erhalt seiner Macht "alles zuzutrauen" wäre. Es gilt als sehr unwahrscheinlich - aber theoretisch könnte sich der Präsident im Weißen Haus einbunkern und sich weigern, abzutreten. Er hätte die Möglichkeit, Proteste und Ausschreitungen zu provozieren, dann die Nationalgarde einzusetzen und das Kriegsrecht, wie im "insurection act" vorgesehen, auszurufen. Dann würden Chaos und Gewalt regieren.

Der unklare Wahlausgang sorgte schon am Mittwoch in Portland für massive Proteste. Dort zogen bewaffnete Aktivisten vors Bundesgericht von Oregon und skandierten Parolen gegen Trump und Ted Wheeler, den bei den Kommunalwahlen am Dienstag erfolgreichen demokratischen Bürgermeister der Stadt. Zwei US-Flaggen wurden angezündet. Die Stimmung war äußerst gereizt. Bei einem Wahlsieg Trumps, vermuteten Aktivisten in Portland, werde es "eine Aufstand" geben. "Sollte Trump für weitere Jahre gewählt werden, würden die Leute ausrasten", meinte ein Demonstrant.

Das FBI hatte vor der Wahl vor bewaffneten Zusammenstößen zwischen linken und rechten Aktivisten gewarnt. Selbsternannte, rechtsextreme Bürgerwehren wie die "Proud Boys" waren zuletzt aber nicht zu sehen. Demonstrationen der Bewegung "Black Lives Matter" waren in den vergangenen Monaten immer wieder in Gewalt umgeschlagen; rechte Milizen und linke Aktivisten lieferten sich in Potland mehrfach Auseinandersetzungen.

Unflexible Verfassung hat gewichtige Nachteile

In dieser angespannten Lage offenbaren sich deutlich die Schwächen der US-Verfassung. Das 233 Jahre alte Dokument wird als ein vielbewunderter Markstein der Demokratie angesehen - obwohl von Demokratie in dem Dokument gar nicht die Rede ist, nur von "Republik".

Im Gegensatz zu mitteleuropäischen Staaten wie Österreich, in denen unter einen ausufernden, meist nur Experten bekannten Verfassungstext auch Alltagsgesetzgebung gemischt ist, wurden an der wesentlich schlankeren US-Verfassung in den Jahren seit ihrer Annahme nur 27 Änderungen vorgenommen. Das hat den Vorteil, dass es in den USA einen starken Verfassungspatriotismus gibt, dass das Staatsgrundgesetz in der Regel ernst genommen wird.

Doch die Inflexibilität der Verfassung hat gewichtige Nachteile: Viele Beobachter fragen sich, ob das System noch zeitgemäß ist. Nur wenig bekannt ist, dass die Gründerväter der Vereinigten Staaten ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Volk hegten. Das Staatsoberhaupt, der Präsident, wird deshalb nicht direkt durch das Volk gewählt, sondern mittels Wahlmännern. Auch kommt es nicht darauf an, wer am Ende die meisten Stimmen auf sich vereinigt - dann würde ein ganz deutlicher Sieg des Demokraten Joe Biden bereits fix feststehen -, sondern wer die meisten Wahlmänner auf seiner Seite hat.

Die Mehrheit in den einzelnen Staaten entscheidet, ob der entsprechende Staat republikanische oder demokratische Wahlmänner nach Washington entsendet. Dieses System bringt mannigfaltige Ungerechtigkeiten mit sich.

Kritisiert wird nicht nur, dass die Stimmen der jeweils unterlegenen Partei gänzlich unrepräsentiert bleiben, sondern auch, dass einzelne Staaten durch diese Konstruktion ein Gewicht bekommen, das ihnen aufgrund ihrer Bevölkerungszahl eigentlich nicht zusteht. So sind etwa agrarische, republikanisch dominierte Staaten im gegenwärtigen Wahlmännersystem überrepräsentiert.

Die Inflexibilität der US-amerikanischen Verfassung bringt aber noch ein weiteres Problem mit sich: Die Konstitution ist ein altes Dokument aus dem 18. Jahrhundert, das, um in der heutigen Zeit noch Gültigkeit zu haben, der Auslegung bedarf. Die Institution, die für diese Auslegung und Anpassung an die heutige Realität zuständig ist, ist der Oberste Gerichtshof.

Und der ist spätestens nach der Ernennung der konservativen Richterin Amy Coney Barrett durch Trump auf lange Zeit republikanisch dominiert.