Zwanzig Jahre nach dem Wahlkrimi von Florida steuert wieder eine US-Präsidentenwahl auf eine juristische Entscheidung zu. Amtsinhaber Donald Trump stemmt sich mit Klagen in mehreren US-Staaten gegen eine Niederlage. Wie eine aktuelle Studie der University of Texas zeigt, haben solche Klagen viel mit dem umstrittenen Wahlmännersystem zu tun. In diesem seien nämlich knappe Wahlausgänge, die vor Gericht landen, um 40 Mal wahrscheinlicher als bei einer direkten Wahl.
Die Wahlforscher Michael Geruso und Dean Spears untersuchten für ihre im Oktober veröffentlichte Expertise die Präsidentenwahlen der Jahre 1988 bis 2016, wobei sie 100.000 verschiedene Szenarien durchspielten. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Ergebnis durch die Annullierung von 2.000 Stimmen ändert, betrug demnach 0,9 Prozent. Bei einer landesweiten Auszählung hätte sich das Ergebnis hingegen nur in 0,02 Prozent der Fälle geändert. Sind 20.000 Stimmen im Spiel, steigt die Wahrscheinlichkeit einer Ergebnisänderung im aktuellen Wahlsystem auf 6,9 Prozent, während es bei einer direkten Wahl nur bei 0,2 Prozent liegt.
Der US-Präsident wird indirekt durch Elektoren der 50 Bundesstaaten und des Hauptstadtdistrikts Washington D.C. gewählt, wobei die Staaten Maine und Nebraska einen Teil der Wahlleute auf regionaler Ebene vergeben. Überall sonst erhält der Kandidat mit der relativen Mehrheit der Stimmen alle Elektorenstimmen.
Risiko wäre bei einer landesweiten Volkswahl geringer
"Unsere Erkenntnisse zeigen, dass das Risiko einer umstrittenen Wahl und der augenscheinlichen Illegitimität eines sehr knappen Ausganges in einem System der landesweiten Volkswahl deutlich geringer wäre", betonen Geruso und Spears in der Studie mit dem Titel "How Likely Is It that Courts Will Select the US President" (Wie wahrscheinlich ist es, dass Gerichte den US-Präsidenten küren)
Besonders brisant ist die Erkenntnis der Experten, dass es eine parteipolitische "Asymmetrie" bei solchen knappen Wahlausgängen gibt. 71 Prozent der Szenarien beträfen nämlich demokratische Kandidaten, die landesweit eine Stimmenmehrheit erreichten. In dieses Muster fällt auch die aktuelle Wahl, die bei einer landesweiten Wertung eine klare Sache wäre. Der Demokrat Joe Biden hielt nämlich am Mittwochabend (Ortszeit) bei 71,5 Millionen Stimmen, um 3,5 Millionen Stimmen mehr als sein republikanischer Kontrahent Donald Trump.
Trump war auch vor vier Jahren landesweit um rund drei Millionen Stimmen hinter seiner damaligen demokratischen Konkurrentin Hillary Clinton gelegen, hatte sich aber im Elektorenkollegium wegen knappen Siegen in den Staaten Pennsylvania (44.000 Stimmen), Wisconsin (22.000) und Michigan (11.000) durchgesetzt. Clinton verzichtete damals auf Klagen.
Überrepräsentation der ruralen Gebiete
Das Elektorensystem bevorzugt republikanische Kandidaten, weil sie in den ruralen kleineren Bundesstaaten ihre Hochburgen haben. Diese sind im Wahlkollegium überrepräsentiert. Jeder Staat stellt nämlich mindestens drei Elektoren, was der Mindestanzahl an Kongressabgeordneten und Senatoren entspricht. Im Senat hat jeder der 50 Bundesstaaten zwei Sitze, ungeachtet seine Größe.
Geruso hat in einer früheren Studie bereits festgestellt, dass ein Auseinanderfallen des Ergebnisses von Volks-und Elektorenwahl gerade bei einem knappen Ergebnis nicht unwahrscheinlich ist. Liegen die beiden Kandidaten um weniger als einen Prozentpunkt landesweit auseinander, beträgt die Wahrscheinlichkeit für eine "Inversion" (andere Mehrheit im Wahlmännergremium) 45 Prozent, was "fast wie ein Münzwurf" ist, sagte Geruso der britischen Tageszeitung "The Guardian".
In den 48 Präsidentenwahlen seit 1824 ist dies zwar nur vier Mal (1876, 1888, 2000 und 2016) passiert. Profitiert hat davon aber jeweils der republikanische Kandidat. Im Jahr 2000 verdankte der republikanische Wahlsieger George W. Bush seinen Sieg einen Vorsprung von wenigen hundert Stimmen in Florida, während der Demokrat Al Gore landesweit um eine halbe Million Stimmen mehr sammeln konnte.
Das Wahlmännersystem ist in den USA seit Jahren politisch umstritten. Neben der Verzerrung des Wählerwillens wird kritisiert, dass es zu einer Konzentration des Wahlkampfs auf einige wenige "Swing States" führe. Die Befürworter führen ins Treffen, dass dadurch die Kandidaten motiviert werden, auch außerhalb der großen Bevölkerungszentren Wahlkampf zu machen.
Vor allem die Demokraten machen Druck, das Elektorensystem abzuschaffen. Weil eine entsprechende Verfassungsänderung wegen der hohen Hürden (Zustimmung von drei Viertel der Bundesstaaten) wenig wahrscheinlich ist, soll das System über eine Vereinbarung der Bundesstaaten untereinander ausgehebelt werden. Der "National Popular Vote Interstate Compact" sieht vor, dass sich die teilnehmenden Bundesstaaten dazu verpflichten, ihre Elektorenstimmen für den landesweiten Sieger der Präsidentenwahl abzugeben. Bisher haben sich 16 Staaten, die zusammen 196 Wahlmänner stellen, diesem Vertrag angeschlossen. Es handelt sich dabei durchwegs um demokratische Hochburgen wie Kalifornien, New York oder Illinois. Wirksam wird der Vertrag, sobald die ihn tragenden Staaten 270 Wahlmänner und damit die Mehrheit im Wahlkollegium haben. (apa)