Auch wenn sich die Auszählung der Stimmen zur US-Präsidentschaftswahl bis zum Wochenende zog, standen zwei Trends bereits unmittelbar nach Ende des Wahltags statt - und das ungeachtet des Endergebnisses. Nummer eins: Großstadt gegen Land. Nummer zwei: die überwältigende Mehrheit weißer Amerikaner gegen alle anderen. Die teils massiven Überschneidungen zwischen diesen beiden Polen sind nicht zufällig. Auch wenn die genauen Zahlen so kurz nach dem Urnengang noch nicht feststanden, bestätigte der relative Erfolg des Amtsinhabers Donald Trump - der wie schon 2016 die Arbeit praktisch aller Umfrageinstitute düpierte - vor allem anderen, was in den USA ungern offen diskutiert wird: die fortschreitende Radikalisierung weißer Wählerinnen und Wähler.
Die Zahlen sprechen diesbezüglich eine eindeutige Sprache, die keinen Raum für Interpretationen zulässt. Hätten allein weiße Amerikaner die Wahl entschieden, hätte es noch am Wahlabend einen eindeutigen Sieger gegeben: den Präsidenten. Dessen Problem: Während es Trump und seiner Partei gelang, jene am Land lebenden Abermillionen Wählerinnen und Wähler im gleichen Ausmaß zu motivieren wie 2016 und sogar noch mehr - nach Stand Freitagmorgen waren es insgesamt satte sechs Millionen Stimmen mehr -, ging das nahezu überall sonst in einem Ausmaß unter, das mit historisch nur unzureichend beschrieben ist.
Egal ob sogenannte Swing States wie Pennsylvania, Nevada, Arizona und Georgia oder als konservative Hochburgen geltende Bundesstaaten wie Texas: In ausnahmslos jedem Ballungszentrum mit mehr als 300.000 Einwohnern, was nach amerikanischen Verhältnissen meist als Kleinstadt gilt, profitierten die Demokraten von der höchsten Wahlbeteiligung seit mehr als einem Jahrhundert in überproportionalem Ausmaß. Nirgendwo zeigte sich dies so dramatisch wie in den wahlentscheidenden Orten von Philadelphia (Pennsylvania) im Nordosten über Atlanta (Georgia) im Süden bis Las Vegas (Nevada) und Phoenix (Arizona) im Westen des Landes.
Blaue Inseln im roten Meer
Rein optisch stellte sich das Bild, das am Wahlabend ebenso wie 72 Stunden später dominierte, stets gleich dar: blaue Inseln inmitten eines rot eingefärbten Meers, den jeweiligen Farben der Demokraten und der Republikaner entsprechend. Was in diesem Zusammenhang den potenziell entscheidenden Unterschied für Herausforderer Joe Biden ausmachte, ist einfach zu erklären. Während in den roten Gegenden, und das gilt für die gesamten USA, nur vergleichsweise wenige Menschen leben, repräsentieren die blauen lokale und teils überregionale bis globale Metropolen, die als eine Konsequenz dieses Status einen namhaften Anteil an ethnischen Minderheiten zählen.
Für Trump und seine Republikaner, wie schon vor vier Jahren bewiesen, stellen diese Ballungszentren eine mehr als dankbare Angriffsfläche dar. Nachdem der nach wie vor amtierende Präsident am Donnerstagnachmittag Ortszeit Washington eine bizarre Rede über angeblichen Wahlbetrug gehalten hatte, griffen seine Statthalter im Kongress Stunden später im Hauptabendprogramm das von ihm formulierte Narrativ auf.
Während in den rechten bis rechtsradikalen Medien die Glaubwürdigkeit der bisher feststehenden Wahlergebnisse quer durch die Bank angezweifelt wurde, brachte es Lindsey Graham, der frisch wiedergewählte republikanische Senator von South Carolina, auf den Punkt: "Wahlen in Philadelphia sind so krumm wie eine Schlange." Der kaum zu überhörende, angesichts der seit Jahrzehnten relativ stabilen demografischen Zusammensetzung der "City of Brotherly Love" offen rassistische Unterton: Dort, wo Afroamerikaner einen überproportionalen Anteil an der Bevölkerung stellen, im konkreten Fall knapp über 40 Prozent der Einwohner, kann man keinem Wahlergebnis trauen, so transparent, offen und demokratisch der Prozess sich auch darstellen mag.
Entsprechend war die Reaktion Trumps auf das, was sich in anderen für seine Wiederwahl entscheidenden Bundesstaaten wie Wisconsin, Michigan, Arizona und Georgia abspielte. Ohne die Stimmen von Milwaukee, Detroit, Phoenix und Atlanta, alles Millionen-Metropolen mit mehr als einem signifikanten Anteil an Afroamerikanern - Latinos und Hispanics spielen dort mit Ausnahme der größten Stadt Arizonas nur eine untergeordnete Rolle -, würde die einzige Frage in diesen Bundesstaaten lauten, wie hoch sein Sieg ausfallen würde.
Angesichts dieser unumstößlichen Fakten fasste vielleicht niemand das Dilemma des Präsidenten und der überwältigenden Mehrheit seiner Wähler besser zusammen als Michael Nutter, der von 2008 bis 2016, während der gesamten Präsidentschaft Barack Obamas, der Stadt Philadelphia als Bürgermeister vorstand. Im Interview mit dem Kabelsender MSNBC erklärte der heute an der Eliteuniversität Columbia als Professor für urbane Entwicklung lehrende 63-Jährige: "Es sind wieder die Schwarzen, die Amerika vor sich selber retten, und das schon seit langem. Wir sind die einzige Bevölkerungsgruppe, die in ihrem Bekenntnis zum Streben nach Freiheit konsistent ist."