Wenn man Eva Sangiorgi nach ihren Wiener Lieblingsplätzen fragt, dann könnte man durchaus überrascht sein, dass es nicht die Postkarten-Ansichten der Stadt und auch nicht die hippen Szene-Treffs der Künstler sind, die die 41jährige Italienerin aus der Emilia Romagna am liebsten besucht. Aber jemandem, der sein Leben dem Film gewidmet hat, sind die traditionsreichen Stätten der Stadt wahrscheinlich weniger wichtig als die eigenen Wirkstätten: Sangiorgi treibt sich in ihrer Eigenschaft als Viennale-Programmdirektorin am liebsten dicht im Umfeld der Filmer herum, ist oft im MuseumsQuartier unweit des Viennale-Büros anzutreffen, liebt den Naschmarkt und genießt Wien auch gern im Umfeld der Viennale-Kinos Stadtkino oder Metro.

Und auch für das größte Manko, das die Italienerin im Gegensatz zu ihrer Heimat in Wien erleben muss – nämlich die Absenz des echten italienischen Espresso – hat sich inzwischen gottlob eine Lösung gefunden. In der kleinen Kaffeebar "Wheel" in der Siebensterngasse, gleich neben dem Viennale-Büro, werden nicht nur Espresso-Maschinen verkauft, sondern auch Kaffee verkostet. "Der Kaffee dort kommt dem italienischen am nächsten", schwärmt Sangiorgi.
Schmelztiegel der unterschiedlichsten Einflüsse
Ganz abgesehen von solchen lukullischen Genüssen mag Eva Sangiorgi an Wien gerade die Diversität der Stadt: Das Wiener Schnitzel wird ihr wegen seiner fetten Panier wohl nie zur Leibspeis, aber der "Melting Pot" aus Einflüssen an kulinarischer Vielfalt aus den ehemaligen k.u.k. Kronländern hat eine ganz eigentümliche Mischung ergeben, die Sangiorgi bemerkenswert findet, für Herrn und Frau Österreicher aber ganz normal ist: Die Knödel aus Tschechien – in Österreich perfektioniert. Das Schnitzerl aus Mailand – in Österreich perfektioniert. "Das ließe sich durch sämtliche Speisekarten so fortsetzen", sagt Sangiorgi. "Und das ist eines der Hauptargumente für Wien: Dieser Schmelztiegel der unterschiedlichsten Einflüsse und Menschenschläge ist tatsächlich gelebtes Multikulti." Eindrücke einer Nicht-Wienerin über Wien. Das sollte man mal so stehen lassen.
Passend zu diesem Eindruck serviert Sangiorgi – um im Jargon der Gastronomie zu bleiben – ihr ganz eigenes Menü, wenn es darum geht, die Wiener mit Filmkunst zu versorgen: Denn auch hier schreibt Sangiorgi die Vielgestalt und Diversität groß, zeigt Filme zwischen Arthaus und Mainstream, zwischen totalem Nischenkino und breitestem Publikumszuspruch. Das führt bei der heurigen Viennale-Ausgabe zu solch scheinbaren Diskrepanzen wie der Programmierung von Filmen wie Stephen Soderberghs üppiger Netflix-Produktion "The Laundromat" bis zu spröden Kinoerlebnissen wie jenes von "Ema" des Chilenen Pablo Larrain. "Alles ist Kino", sagt Sangiorgi, "Und dazu gehören Blockbuster ebenso wie die hohe Kunst."
Film als Kunst begreifen
Sangiorgi, die zuvor 16 Jahre lang das Ficunam-Filmfestival in Mexiko City geleitet hat, pflegt einen demokratischen Ansatz in dieser Hinsicht, allerdings ohne ihre Kernaufgabe zu vernachlässigen: Film als Kunst zu begreifen und ihn zu vermitteln. Deshalb hat man sich vor zwei Jahren für sie entschieden, aus einer Vielzahl an Bewerbern, um die Nachfolge des verstorbenen Langzeit-Viennale-Direktors Hans Hurch anzutreten. Und: Seit diesem Sommer weiß Sangiorgi auch, dass sie ihre Aufgabe, die Viennale mit den besten Filmen des Weltkinos zu bespielen, noch einige Zeit lang erfüllen darf. Man hat ihr, die mit einem Drei-Jahres-Vertrag gestartet war, diesen gerade erst um weitere fünf Jahre – bis 2026 – verlängert. Das ist länger als die nächste Wiener Landtagsperiode (2020–2025) dauern wird. Da wird mit reichlich Weitblick geplant vonseiten der Stadtväter und der Viennale. Die Filmschau soll sich offenbar weiter in überaus stabilen Verhältnissen bewegen, komme, was da wolle, auf lokalpolitischer Ebene.
Zum Gespräch treffen wir Eva Sangiorgi in ihrem Viennale-Büro. Ihr Team ist alteingesessen, aber im Unterschied zu früher sprechen heute alle permanent Englisch, denn Sangiorgi ist erst dabei, Deutsch zu lernen. Immerhin: Jedes ihrer Telefonate mit den österreichischen Filmverleihern, mit denen sie die Viennale-Filme abstimmt, beginnt mit einem "Grüß Gott". Dann aber ist sie noch zu unsicher, was die Wiener Grammatik angeht. "But I will make sure to practice a lot", versichert sie.
Wiener Journal: Welchen Fußabdruck würden Sie gerne hinterlassen?
Eva Sangiorgi: Für die kommende Viennale hatte ich erstmals die Zeit, die man braucht, um ein Festival zu entwickeln. Ich konnte mir einen Überblick verschaffen, was die Viennale-Besucher mögen und was nicht. Und welche meiner Eigenschaften als Festival-Programmiererin da dazu passen. Man sieht es in den Details, wie ich und die Viennale sich einander angenähert haben. Man sieht auch eine Kontinuität, denn mein Stil ist sehr ähnlich jenem von Hans Hurch, und in dieser Tradition führe ich die Viennale weiter. Ich habe vieles getestet, und bin sehr glücklich über meine Auswahl, weil sie gut zu mir passt und auch gut zur Viennale.
Gibt es auch neue Impulse?
Ich versuche, das Festival interdisziplinär zu machen: Das heißt, die Viennale wird in Zukunft stärker Kooperationen mit anderen Institutionen suchen, zum Beispiel mit der Kunsthalle ab 2020 oder auch mit den Wiener Festwochen. Das sind Projekte, die nicht direkt mit dem Kino zu tun haben, sondern den Blick weiten sollen auf das, was man Kunst nennt – und das gelingt, wenn man mehrere Kunstformen miteinander ins Wechselspiel bringt.
Als Sie das erste Mal nach Wien kamen, für Ihre erste Viennale, war es sehr seltsam für Sie, in einer Kultur zu arbeiten, in der Sie zuvor noch nie gearbeitet oder gelebt haben?
Ja, und wie! Am Anfang wusste ich nicht, wie das Wiener Publikum einzuschätzen ist, in Hinblick auf das Programm und auf mein Auftreten, gerade, weil die Viennale so viele Jahre von Hans Hurch geprägt worden ist. Aber zu meiner Überraschung wurde ich sehr herzlich aufgenommen. Es war im Prinzip derselbe Job, den ich schon in Mexiko gemacht hatte, allerdings in einer anderen Kultur und in einer anderen Sprache. Heute spreche ich immer noch nicht Deutsch, aber ich verstehe mehr und mehr. Ich nehme auch private Deutschstunden, so oft ich kann.
Wien ist nun ihre Heimat für etliche Jahre. Was lieben Sie an der Stadt?
Ich liebe an Wien, dass ich alle Wege zu Fuß erledigen kann. Alles liegt sehr nahe beieinander, und die Farbe des Himmels ist zu jeder Jahreszeit schön – außer, wenn es draußen so richtig Winter ist vielleicht. Aber ich mag die Kälte auch, sie ist viel angenehmer zum Arbeiten als die Hitze. Außerdem mag ich an Wien, dass es ein Schmelztiegel ist, mit einer sehr starken Ost-Prägung. Das sieht man als Wiener vielleicht nicht so sehr, aber mir war es schon im ersten Augenblick aufgefallen. Man merkt schnell, dass hier auch der Balkan großen Einfluß hatte – das sieht man ja allein schon an den Nachnamen. Und auch beim Essen gibt es diesen Mix: Knödel, die aus Böhmen stammen, das Schnitzel, das die Österreicher aus Mailand importierten, der Paprika, der überall drin ist und den ungarischen Einfluss zeigt, und so fort. Für mich ist diese Gesellschaft hier sehr exotisch. Das fasziniert mich, und das erforsche ich.
Was sind denn Ihre Lieblingsspeisen der österreichischen, der mexikanischen und der italienischen Küche?
Natürlich mag ich ein gutes Wiener Schnitzel, aber ich könnte es nicht jede Woche essen, ohne Gewicht zuzulegen. In Lateinamerika liebe ich zum Beispiel Aguachile, Meeresfrüchte in scharfer Sauce, oder Ceviche, rohen Fisch mit Limettensaft. Auch Tacos und Tortillas sind perfekt. Und was Italien betrifft, da ist die Auswahl riesig. Einer meiner Favoriten ist Passatelli in Brodo, die Parmesan-Suppe aus der Emilia Romagna, wo ich herkomme.
Bleiben wir kulinarisch: Sie haben die Viennale einmal als Feinkostladen bezeichnet. Wie ist das gemeint?
Die Viennale hat zwar sehr viele Filme im Angebot, sie ist aber trotzdem kein Supermarkt für Filme, in den man reingeht und sich einfach bedient. Sie ist deshalb ein Feinkostladen, weil hier sehr ausgewählte, auch sehr entlegene Filmemacher berücksichtigt werden, von denen man in unseren Breiten vielleicht noch nicht so viel gehört hat. Ich zeige diese kleinen Filme gerne an der Seite von größeren Produktionen, weil ich glaube, dass dieser Mix der Faszination am Kino zuarbeitet. Auch das ist eine Prise Exotik, die ich in die Viennale bringen will. Kino, das aus Weltregionen stammt, aus denen man es nicht erwartet. Ich will auch die Klischees vermeiden: Nicht alle Filme aus Mexiko haben mit Gewalt zu tun, wie man es landläufig glaubt. Genau wie nicht jeder österreichische Film Sozialtristesse abbildet.
Haben Sie jemals darüber nachgedacht, selbst Filme zu machen?
Oft. Als ich jung war, wollte ich Tänzerin werden. Filme zu drehen, war ein anderer Traum. Aber ich habe ihn mir nicht erfüllt.
Haben Sie eigentlich irgendeine österreichische Eigenheit angenommen, seit Sie hier sind? Oder sagen wir: Ein österreichisches Klischee? Ein Dirndl getragen?
Ich liebe es, Musik zu hören, und ich glaube, das ist gerade in Wien eine unglaublich österreichische Eigenschaft. Und was das Dirndl betrifft: Nein, dazu konnte man mich noch nicht überreden. Aber es gibt Hoffnung, denn ich trage immer noch gern meine mexikanischen Ponchos, die ich von dort mitgebracht habe. Und ich habe noch eine österreichische Eigenheit angenommen: Im Sommer trinke ich manchmal einen Sommerspritzer. Diese Mischung von Wasser und Wein kannte ich so noch nicht. Ich konnte mir das nicht vorstellen, dass ich sowas mal mögen würde.
Recht viel Österreich steckt auch in Ihrem diesjährigen Viennale-Programm. Wie stehen Sie zum Austro-Kino?
Das Kino ist sehr engagiert, was den zeitgeschichtlichen Bezug angeht. Und es gibt auch viele politische Filme – einen davon zeigen wir: "Die Dohnal", über die einstige Frauenministerin. Dennoch ist die Viennale kein Festival des österreichischen Films. Dazu musste ich mit so manchem schon diskutieren. Aber die Linie, die Hans Hurch vertreten hat, will ich da fortführen. Die Viennale hat Raum für Experimentelles, gerade aus Österreich, aber die übrigen Filme müssen sich im Gesamtbild des internationalen Kinos messen.
Bei unserem ersten Treffen hatten Sie die Qualität des österreichischen Kaffees beklagt – kein Wunder, wenn man an italienischen Espresso gewöhnt ist. Hat sich dieses Problem inzwischen gelöst?
Ja, ich habe einige sehr gute Plätze gefunden, wo mir der Espresso schmeckt. In dieser Hinsicht muss ich also sagen: Tutto bene.