Marine Le Pen ist einem Nobelvorort von Paris aufgewachsen, in dem die Immobilienpreise für ihre Wähler unerschwinglich sind. Trotzdem hat es die Rechtspopulistin geschafft, sich vor der Stichwahl um das Präsidentenamt am Sonntag als Sprachrohr der Abgehängten darzustellen und Emmanuel Macron, der in einem bürgerlichen Haushalt in der Provinz aufgewachsen ist, als Vertreter einer abgehobenen Elite. Warum gerade jetzt in Frankreich ein Diskurs über die Eliten ausgebrochen ist und warum sich so viele Franzosen abgehängt fühlen, darüber sprach die "Wiener Zeitung" mit dem in Angers lehrenden Soziologen Albrecht Sonntag.

Albrecht Sonntag stammt aus Deutschland. Der Soziologe lebt und lehrt seit mittlerweile mehr als 30 Jahren in Frankreich und ist Professor für Europastudien an der ESSCA Ecole de Management in Angers. Sonntag veröffentlicht regelmäßig Aufsätze über die französische Politik und Gesellschaft, die unter dem Link https://libmod.de zugänglich sind.
- © privat"Wiener Zeitung": Dass Frankreich von einer Elite regiert wird, die bestimmte Universitäten abgeschlossen hat, hat lange Tradition. Warum bricht ausgerechnet jetzt, unter Emmanuel Macron, so eine anti-elitäre Stimmung aus?
Albrecht Sonntag: Tatsächlich ist die Elitenbildung und -förderung in der französischen, republikanischen Gesellschaft tief verankert -über ein Bildungssystem, das pyramidal aufgebaut ist. Dabei geht es darum, die Besten und Klügsten für den Staatsdienst, also den Dienst an der Allgemeinheit, zu gewinnen. Denn am Ursprung dieser Republik steht der Gedanke, dass jeder in diesem Schulwesen die Chance haben muss, sich nach oben zu arbeiten. Das steht aber im starken Widerspruch zur französischen Realität, in der der soziale Fahrstuhl seit längerem blockiert ist. Das schafft Ressentiments gegen die Elite.

Macron und Le Pen während des TV-Duells.
- © Reuters / Christian HartmannWarum ist dieser Aufstieg so schwierig geworden?
Eliten trachten danach, ihren sozialen Status zu halten. In bestimmten Familien hat sich soziales und kulturelles Kapital angehäuft. Das Schulwesen ist seit Jahrzehnten nur auf der Förderung der Besten aufgebaut und schert - gerade wegen des Gleichheitsgedankens - alle über einen Kamm. Aber wir wissen ja mittlerweile, was für einen Unterschied es macht, ob man in einer Familie aufwächst, in der Bücher etwas Positives sind, man Ferien macht und ins Museum geht oder eben nicht. Bei einer scheinbaren Chancengleichheit klaffen die Ausgangspositionen derart auseinander, dass der gefühlte Aufstieg nicht mehr möglich ist. Darüber hinaus hat meiner Ansicht nach die Verhärtung des Immobilienmarkts dazu beigetragen, dass ein gewisser Anti-Elitismus stärker geworden ist. Selbst gut ausgebildete junge Leute können nicht mehr davon träumen, jemals eine Wohnung in Paris zu besitzen.
Geht es in der Debatte nicht auch ganz allgemein darum, dass gewisse Gegenden nicht nur mit Paris, sondern auch anderen urbanen Zentren wie Nantes oder Lyon nicht mehr mithalten können?
Es gibt Regionen, besonders im Norden und Osten, die unter der Deindustrialisierung ganz besonders stark gelitten haben. Da bricht nicht nur ein ökonomisches Gefüge zusammen, sondern auch sozialer Zusammenhalt. Die Arbeiterklasse hat in Frankreich eine stolze, selbstbewusste Vergangenheit und fällt auseinander. Tatsächlich ziehen sich hier auch öffentliche Dienste wie Post oder Bahn zurück, ein großes Thema ist auch, wie groß der Abstand zur nächsten Geburtsklinik ist und welche regionalen Unterschiede es hier gibt. Populisten wie Marine Le Pen greifen diese Themen auf. Sie spricht ganz bewusst von den Vergessenen und Abgehängten, wobei das aber teilweise auch imaginär ist.
Inwiefern?
Auch in den abgehängten Regionen ist der Sozialstaat sehr präsent. Er hat gerade während der Corona-Pandemie gezeigt, wie stark und solide er in seiner Umverteilung nach wie vor ist. So sagen viele kleinere Unternehmer, dass sie ohne dem, was der Staat angeschoben hat, nicht mehr am Markt wären. Aber was zählt - besonders in Wahlkämpfen -, ist die Wahrnehmung. Und die Selbstwahrnehmung ist oft eine negative. Es wäre herablassend zu sagen, dass man sich in diesen Regionen darin gefällt, sich als deklassiert und vergessen zu betrachten, aber man hat sich doch in diesen Diskurs hineingesteigert - genauso wie in einen gewissen Elitenhass. Und es trifft sich nun, dass mit Macron an der Spitze des Staates jemand steht, der die Elite verkörpert.
Le Pen verbindet das Thema des Abgehängt-Seins auch mit der sinkenden Kaufkraft. Trifft sie hier einen wunden Punkt?
Rein objektiv sind die Zahlen deutlich: Die Kaufkraft ist unter Macron auch für die bescheideneren Haushalte nicht zurückgegangen. Aber die wahrgenommene Kaufkraft wird als gesellschaftliche Katastrophe empfunden. Meines Erachtens nach drückt - wie schon bei den Protesten der Gelbwesten - der Schrei nach mehr Kaufkraft aus, dass viele Leute eine fairere und gerechtere Teilhabe an der liberalistisch-kapitalistischen Gesellschaft fordern - in der, trotz aller Umverteilungen des Sozialstaates, die sozialen Ungleichheiten immer weiter auseinanderklaffen. Das ist in Frankreich bei den Gehältern tatsächlich extrem. Wenn man etwa betrachtet, wie viel hochstudierte, junge Gymnasiallehrer verdienen, dann ist das ein Witz. Es geht eine Angst um, dass man nicht mehr eine Existenz aufbauen kann, die zum Beispiel in einem netten Vororthäuschen mündet.
Womit wir wieder beim Immobilienmarkt wären . . .
Ja, dieser wurde im Wahlkampf überhaupt nicht thematisiert, aber ich denke, dass er einer der Hauptgründe ist, warum das Land so explosiv und gereizt ist. Da geht es auch um die Frage, wo man sich Wohnraum überhaupt noch leisten kann. Je weiter man aus den Zentren und von der Wohlstandsgesellschaft hinausgedrängt wird, desto mehr ist man vom Auto abhängig. Das wird im Ausland unterschätzt: In Frankreich leidet man unter der Geografie. Es ist ein großer Flächenstaat, in dem man viele Kilometer zurücklegen muss. Am Land kann sich niemand ein Elektroauto leisten, und die Transportkosten steigen. Auch wenn man jetzt noch durchkommt, macht das die Zukunft angsteinflößend.
Und Le Pen gibt sich nun als Beschützerin dieser Leute . . .
Dass er sich als aggressiver Verteidiger der einfachen, hart arbeitenden Leute darstellt, macht der französische Populismus schon immer. Le Pen greift da Argumente auf, die es schon in den 1950er Jahren gab. Aber es hat sich nun etwas Grundsätzliches verschoben, und das ist sehr beunruhigend: Der Anti-Elitismus ist abgerutscht in einen ganz billigen Anti-Intellektualismus, wie man ihn etwa auch bei Donald Trump und seinem Umfeld findet. Intelligenz wird nicht mehr als etwas Positives anerkannt, sondern wird gleichgesetzt mit Arroganz, Herablassung und Verachtung. Die Debatte ist voll und ganz in das Emotionale abgerutscht.
Hat sich das auch beim TV-Duell zwischen Le Pen und Macron gezeigt?
Man sieht es vor allem bei der Auswertung dieses Duells. Es geht nicht darum, dass sich die eine Kandidatin einmal mehr als kompetenzfrei erwiesen hat und der andere Kandidat intellektuell enorm stark ist. Die ganze Diskussion dreht sich fast nur noch um die Körpersprache Macrons, dass er nicht den Finger hätte heben oder nach oben blicken dürfen. Man konzentriert sich nur auf die Zeichen der Arroganz, die ihm zugeschrieben werden.
Passt der Anti-Intellektualismus auch zu Le Pens ablehnender Haltung gegenüber dem europäischen Projekt?
Ja. Europa als supranationales Projekt ist ein intellektuell höchst anspruchsvolles Konstrukt. Es kann nur elitistisch sein und so wahrgenommen werden. Das Europa, das Le Pen will, ist intellektuell nicht anspruchsvoll. Es ist das alte Europa aus Nationen, die gegebenenfalls miteinander arbeiten oder auch nicht und sich ein Gleichgewicht zurechtlegen, in dem dann doch meistens der Stärkere gewinnt. Das wäre genau das Gegenteil des Europas, das in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist.
Eine weitere Gruppe in Frankreich sind die Bewohner der Banlieus. Sehen diese sich überhaupt noch politisch repräsentiert?
Zunächst einmal sind die Banlieus viel komplexer, als sie dargestellt werden. So lebt im Großraum Paris der Großteil der Bewohner in sogenannten Banlieus. Es gibt dort sehr glückliche Kindheiten, und es gibt wirkliche Problemviertel. Generell haben die Banlieus im ersten Wahlkampf ganz stark auf (den Linkskandidaten, Anm.) Jean-Luc Melenchon angesprochen. Das zeigt, dass sich viele der Menschen, die in den vergangenen Jahrzehnten eingewandert sind, niemals mit Le Pen anfreunden können. Denn - das hat sich auch im TV-Duell wieder gezeigt - sie kann sich nicht von ihrem Fremdenhass emanzipieren. Dieser ist konstitutiv für ihre Partei - und offenbar auch für sie selbst.