Für Christophe Slagmuylder ist der Krisenmodus zum Dauermodus geworden: Seit der Belgier 2018 kurzfristig dem nicht ganz freiwillig gegangenen Tomas Zierhofer-Kin als Intendant der Wiener Festwochen folgte, verlief keine einzige Spielzeit reibungslos: Das Programm für 2019 musste er im Rekordtempo erstellen, im Pandemiejahr 2020 konnte nur ein Mini-Festival im Herbst stattfinden, und was 2021 und darüber hinaus möglich sein wird, darüber sprach der Intendant mit der "Wiener Zeitung".

"Wiener Zeitung":Die Festwochen präsentieren heuer rund 35 Produktionen aus vielen Ländern. Wie erheblich waren die Schwierigkeiten, einen internationalen Spielplan unter Pandemiebedingungen zu programmieren?

Christophe Slagmuylder: Wir mussten laufend lernen, mit Unwägbarkeiten umzugehen. Es ist wie ein Puzzle, an dem wir immer noch tüfteln. Dennoch war ich die ganze Zeit über felsenfest davon überzeugt, dass die heurigen Festwochen stattfinden werden. Die größte Schwierigkeit lag darin, dass wir nicht abschätzen konnten, wie sich die Lage bis Mai und Juni entwickeln wird. Angesichts der Entwicklung der vergangenen Tage sieht es leider danach aus, dass wir die eine oder andere Aufführung ins kommende Jahr verschieben müssen, etwa Milo Raus erste Opern-Inszenierung "La Clemenza di Tito". Ich bleibe jedoch optimistisch, dass wir einen Großteil des geplanten Programms zeigen werden können.

Die erste Premiere soll Anfang Juni stattfinden, die letzte Mitte September - wobei im Programmbuch allerdings weder genaue Aufführungsdaten noch Spielorte verzeichnet sind.

Die Festwochen gibt es dieses Jahr gleich in doppelter Ausführung - von 3. Juni bis 30. Juli und dann wieder von Ende August bis Ende September. Zum Zeitpunkt der Drucklegung des Programmbuchs gab es noch zu viele offene Fragen - daher gibt es erstmals in der Festwochen-Geschichte die von Ihnen erwähnten Leerstellen, wobei sich die laufend aktualisierten Angaben auf unserer Homepage finden. Wir wissen auch noch nicht genau, unter welchen Hygiene- und Sicherheitsauflagen wir spielen können. Sehr wahrscheinlich werden die Besucher einen negativen Covid-19-Test vorlegen müssen.

Das Programm besteht überwiegend aus Aufführungen, in denen gesellschaftspolitische Kampfzonen ins Visier genommen werden. Findet in der zeitgenössischen Kunst gerade eine Repolitisierung statt?

"Ich empfinde nach dieser langen Zwangspause eine große Sehnsucht nach Live-Theater. Ich bin richtiggehend ausgehungert", sagt Intendant Christophe Slagmuylder. - © Festwochen / Andreas Jakwerth
"Ich empfinde nach dieser langen Zwangspause eine große Sehnsucht nach Live-Theater. Ich bin richtiggehend ausgehungert", sagt Intendant Christophe Slagmuylder. - © Festwochen / Andreas Jakwerth

Wann, wenn nicht jetzt? Meine Rolle als Festivalkurator besteht jedoch nicht darin, ein bestimmtes Thema vorzugeben. Vielmehr geht es darum, gemeinsam mit den Kunstschaffenden Stimmungen und Strömungen aufzugreifen, die in der Luft liegen. Die Erfahrung einer globalen Pandemie, eines weltweiten Ausnahmezustands ist für unsere Generation einzigartig: Daher wird sich Corona überall widerspiegeln, egal wie abstrakt der Theaterabend auch sein mag.

Erleben Sie die Pandemie als Zäsur?

Auf jeden Fall! Die gegenwärtige Situation ist so beängstigend wie befreiend. Welche Lehren wird die Gesellschaft daraus ziehen? Kehren wir danach zurück zu einer Normalität, in der vieles falsch lief, was uns die Krise wie in einem Brennspiegel zeigte? Werden wir zumindest einen partiellen Neustart wagen? Kann das überhaupt gelingen? Ich habe darauf auch keine gültigen Antworten.

Welche Rolle wird dabei der Kunst zukommen?

Kunst kann brisante Fragen stellen und Denkräume eröffnen, in denen wir gemeinsam über Probleme reflektieren können.

Gilt der pandemiebedingte Einschnitt auch für internationale Kunstfestivals? Müssen wir uns auf ganz neue Regeln gefasst machen?

Wir sind gerade dabei, dies herauszufinden. Wir lernen aus und von der Krise. Der international angelegte Kunstaustausch wird sicher nicht an Bedeutung verlieren, im Gegenteil. Die Art und Weise der Kunstproduktion selbst muss jedoch nachhaltiger werden. Das gängige Modell dürfte inzwischen überholt sein: Künstlerinnen und Künstler fliegen für eine dreitägige Vorstellung ein, danach geht’s weiter zur nächsten Destination. Die Kunstschaffenden könnten sich beispielsweise für längere Zeit an Gastspielorten aufhalten, sich in Form von Workshops einbringen, kommende Projekte vorbereiten. Bislang ging es bei internationalen Festivals häufig um Exklusivität. Die Zukunft liegt weniger im Kompetitiven, mehr im Kooperativen.

Dieses Jahr begehen die Festwochen ihr 70-jähriges Jubiläum. Was ist dazu geplant?

Ich möchte das Jubiläum keinesfalls nostalgisch begehen, obwohl ich großen Respekt vor der Geschichte der Festwochen habe. Lieber denke ich aber über die Zukunft der Institution nach. In einem viertägigen Labor wird es daher vor allem um institutionelle Fragen gehen: Ist das Format eines fünfwöchigen Festivals noch zeitgemäß? Welche Erwartungen haben wir an die Festwochen? Wohin könnten sich diese entwickeln? Wir sollten uns nicht scheuen, auch eine bestens etablierte Einrichtung wie die Festwochen zu hinterfragen.

Sind Online-Formate und Netztheater eine mögliche Alternative?

Netztheater hat ein gewisses Potenzial, aber die wahre Qualität eines Festivals liegt in den zwischenmenschlichen Begegnungen. Ich empfinde nach dieser langen Zwangspause eine große Sehnsucht nach Live-Theater. Ich bin richtiggehend ausgehungert.

Überschattet die Pandemie auch die Planungen für die kommenden Jahre?

Da ich in diesem Jahr wenig reisen und praktisch kaum ein Stück live sehen konnte, wird auch 2022 eine ziemliche Herausforderung werden. Der Austausch und die Begegnung mit den Kunstschaffenden fehlen mir massiv. Immerhin bin ich für 2023 optimistischer.