Intendant Christophe Slagmuylder musste seine nunmehr vierte Festwochen-Ausgabe wiederum unter Krisenbedingungen auf die Beine stellen. Welche Rolle die Kunst in einer überforderten Gesellschaft einnehmen kann, darüber sprach der 55-Jährige mit der "Wiener Zeitung".

"Wiener Zeitung": Die Welt befindet sich seit einiger Zeit im permanenten Krisenmodus, moderne Gesellschaften leiden daher zwangsläufig, so der Soziologe Armin Nassehi "an einer Überforderung mit sich selbst". Wie lautet Ihre Zeitdiagnose?

Intendant Christophe Slagmuylder. Andreas Jakwerth - © Andreas Jakwerth
Intendant Christophe Slagmuylder. Andreas Jakwerth - © Andreas Jakwerth

Christophe Slagmuylder: Das Unbehagen und die Ungewissheiten, die Krisenzeiten mit sich bringen, sind uns mittlerweile etwas vertrauter geworden, wir beginnen daraus zu lernen. Ich bemerke vielerorts mehr Flexibilität als zuvor, viele teilen die Einsicht, dass Veränderungen notwendig sind. Wir können nicht so weitermachen wie bisher, wir müssen unsere verschwenderische Art zu leben und zu konsumieren verändern.

Theoretisch stimmt man Ihnen gerne zu, aber wie verhält es sich mit der Praxis? Sind wir bereit, auf Annehmlichkeiten zu verzichten?

Noch nicht, aber uns wird wohl nicht viel anderes überbleiben.

Welche Rolle vermag die Kunst in so einer Umbruchsituation einzunehmen?

Es klingt wie ein Klischee, aber ich bin fest davon überzeugt, dass Kunst einen überlebenswichtigen Raum zu eröffnen vermag, in dem wir neue Gedanken und Ideen austauschen, neue Gemeinschaften bilden und wo letztendlich neue Überzeugungen entstehen können.

Finden sich für dieses ambitionierte Vorhaben Anknüpfungspunkte bei den diesjährigen Festwochen?

"Der Kirschgarten" in der Regie von Tiago Rodrigues mit Isabelle Huppert handelt von einer Epoche des Übergangs, Christiane Jatahy setzt sich in "Depois do Silěncio" mit moderner Sklavenarbeit auseinander, das "Österreichische Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music" etabliert ein neues Format und hinterfragt Kunstinstitutionen ganz grundlegend. Ich könnte jetzt noch vieles aufzählen.

Bitte nur noch eine Empfehlung.

Ein Regisseur wie Christopher Rüping sucht meiner Ansicht nach neuen Formen der Solidarität, er adressiert das Publikum in seinen Aufführungen ganz unmittelbar, es geht um persönliche Teilhabe. Rüping hat sich in den vergangenen Jahren im deutschsprachigen Raum einen Namen gemacht und wir zeigen nun mit "Der Ring des Nibelungen" erstmals eine Inszenierung von ihm in Wien. Aber erwarten Sie bloß keinen Wagner! Es ist ein Theaterabend, dem es gelingt, relevante Identitätsdebatten auf die Bühne zu bringen.

"Der Ring" also ohne Wagner, aber sonst kommt das Musiktheater im diesjährigen Programm prominent vor - angefangen von François Chaignauds Eröffnungspremiere

"t u m u l u s" und Susanne Kennedys "Einstein on the Beach" bis hin zum Auftragswerk "Friede auf Erden" mit dem Arnold Schoenberg Chor. Streben Sie eine Neuorientierung der Festwochen an?

Musik ist zunehmend zu einem Kernanliegen geworden. Wien ist für mich die Stadt der Musik, es gibt hier viele Connaisseurs und ein reges Interesse nicht nur an klassischen Musikdarbietungen. Das Musiktheater ist ein wunderbares Genre, per Definition Grenzen überschreitend. Mich interessieren vor allem jene Projekte, die sich vom Kanon lösen, auf Narration verzichten, sich von konventionellen Kriterien entfernen. In dieser Festwochen-Ausgabe widmen wir etwa der menschlichen Stimme und dem Chor einen besonderen Schwerpunkt.

Mit Bogdan Roščić, Stefan Herheim und Lotte De Beer ist in der Wiener Musiktheaterlandschaft gerade eine Intendantengeneration am Zug, die allesamt für sich reklamieren, neue musikalische Formate und neue inhaltliche Ausrichtungen zu entwickeln. Was halten Sie davon?

Es ist großartig, dass die Wiener Musiktheater-Szene in Bewegung gerät, das Genre neu erkundet und belebt wird.

Wie überschattete die Pandemie die Festwochen 2022?

In den vergangenen eineinhalb Jahren war es praktisch nicht möglich, nach Asien zu reisen, überhaupt waren Fernreisen schwer machbar. Das hat zur Folge, dass das Programm heuer weniger international und stärker europäisch geprägt ist als sonst. Die Festwochen basieren auf einer Balance zwischen Arriviertem und Neuentdeckungen, etwas Neues zu entdecken finden war unter den Reise-Restriktionen aber schwer machbar, außerdem wurde in vielen Ländern weitaus weniger produziert als zuvor. Ich fürchte, das wird uns noch länger begleiten.

Wie stehen Sie zur Debatte, Künstlerinnen und Künstler aus Russland zu boykottieren?

Ich bin strikt dagegen, Kunstschaffende aufgrund ihrer Nationalität nicht auftreten zu lassen. Politische Verstrickungen und unsaubere Finanzierungen sind ein anderes Thema, das Problem ist nicht neu, aber es ist klar, dass man in der gegenwärtigen Situation, die von vielerlei Sanktionen geprägt ist, damit sensibler umzugehen hat.

Werden die Festwochen von russischen Financiers mitfinanziert?

Nein.

Viele Kultureinrichtungen leiden seit Corona unter Publikumsschwund. Wie geht es den Wiener Festwochen?

Bis jetzt bin ich sehr zufrieden mit den Zahlen und bin zuversichtlich, dass es weiterhin gut läuft. Das Thema Publikum ist immer knifflig, besonders für ein Festival, das nicht über einen fixen Abonnentenstock verfügt. Es ist unsere Verantwortung, das Publikum zurückzugewinnen. Ich hoffe, es gelingt uns, die Menschen davon zu überzeugen, dass Kunst eine Notwendigkeit ist, ich fürchte, dass viele sich den Theaterbesuch ein Stück weit abgewöhnt haben. Dabei brauchen wir gerade jetzt mehr denn je, die reale Begegnung und den persönlichen Austausch.