Wir leben in unserem Land in Harmonie", behauptet die Performerin Juliana França am Beginn des Theaterabends "Depois do Silêncio" (deutsch: "Nach der Stille"), der nun im Rahmen der Wiener Festwochen im Odeon uraufgeführt wurde. Die Mär von der Harmonie lernen die Schülerinnen und Schüler Brasiliens schon in der Volksschule. Tatsächlich steht die offizielle Sprachregelung im krassen Kontrast zu dem, was die Mehrheit tagtäglich erlebt.

Vor allem die indigene Bevölkerung und die Nachkommen der afrikanischen Sklaven, die das Gros der Landlosen in Brasilien stellen, können von Harmonie nur träumen. Wenige Großgrundbesitzer teilen sich das Land, das Heer der Landarbeiter rackert sich ab, ohne Anspruch auf Besitz und Ertrag. Von der afrikanischen Diaspora im verarmten Norden Brasiliens handelt Itamar Vieira Juniors Roman "Die Stimme meiner Schwester". Das Buch gewährt intime Einblicke in wenig bekannte Lebenswirklichkeiten. 2019 in Brasilien erschienen, wurde es zu einem Bestseller, im Sommer kommt es auf Deutsch heraus. Vieira verhandelt anhand zweier ungleicher Schwestern den blutigen Kampf der Landarbeiter um ihre Rechte. Autor Vieira weiß, wovon er schreibt. Der 43-Jährige stammt aus einer einkommensschwachen Familie, erhielt ein Stipendium, lebte als Geograf und Ethnologe einige Jahre in den entlegenen Dorfgemeinschaften.

"Die Stimme meiner Schwester" basiert demnach auf wissenschaftlichen Recherchen und eigener Ahnenforschung, verwebt gekonnt Realitätssplitter mit einer fingierten Familiensaga, pendelt geschickt zwischen Gegenwart und Vergangenheit, stellt eine eigentlich unfassbare Kontinuität der Sklavenhaltermentalität dar, in der die Nachkommen der Sklaven selbst Jahrhunderte nach dem Ende der Sklaverei noch völlig entrechtet leben. Dieses Changieren zwischen Realität und Fiktion passt hervorragend zur künstlerischen Praxis von Christiane Jatahy, die in ihrer Arbeit gern behände zwischen den Genres wechselt.

Mord und Totschlag

"Die Stimme meiner Schwester" liefert hervorragendes Ausgangsmaterial für ihre jüngste Bühnenarbeit "Depois do Silêncio". Die 54-jährige brasilianische Künstlerin erweitert den Abend noch um einige Ebenen - und überfrachtet damit ein wenig das Konstrukt. Jatahy verwendet Auszüge aus Eduardo Coutinhos Dokumentarfilm "Cabra Marcado Para Morrer" aus 1983, in dem es um den Mord an João Pedro Teixeira geht, ein Anführer der Landlosen-Bewegung.

Ergänzend hat Jatahy selbst noch einen Film in Remanso und Iuna gedreht, Siedlungen in der Region Chapada Dimantina, in der auch Vieiras Roman spielt. In Jatahys Film erzählen die Dorfbewohner aus ihrem entbehrungsreichen Leben, die gefilmten Sequenzen schlittern etwas in Richtung Ethno-Voyeurismus. Das Filmmaterial wird, während es im Bühnenhintergrund abgespielt wird, von den Performerinnen live auf der Bühne kommentiert, ergänzt, hinterfragt.

Ein Dopplungseffekt stellt sich ein, da die vier Performerinnen auch in den Dorf-Filmen auftauchen, um Episoden aus Vieiras Roman nachzustellen. Höhepunkt des Vexierspiels aus Realität und Fiktion ist ein Dorffest, bei dem im Film zu Trommelmusik getanzt wird, bis schließlich eine der Schauspieler auf der Wiener Bühne den Rhythmus aufnimmt und live in einen tranceartigen Zustand verfällt. Der exaltierte Tanz sprengt die sonst formal streng und schlicht gehaltenen 100-minütigen Aufführung. Etwas mehr szenische Zurückhaltung hätte dem ohnehin aufwühlenden Thema womöglich besser gedient.