Die Festwochen 2022 sind Geschichte. Die Auslastung der knapp 40 Produktionen lag bei rund 80 Prozent. Ein stabiles Ergebnis für eine Festivalausgabe, die zwar ohne Pandemierestriktionen, aber noch immer unter dem Schirm steigender Corona-Infektionszahlen ablief. Ein halbwegs positives Fazit, ließe sich resümieren: ganz gut, aber nicht richtig gut. Was irgendwie auch der künstlerischen Bilanz der heurigen Festwochen entspricht.

Worin lag traditionell das Erfolgsgeheimnis der Festwochen? In einer Kombination aus Theater im XXL-Format und szenischen Preziosen, in Begegnungen mit Stars des Welttheaters und globalen Neuentdeckungen - vor allem aber in theatralen Erlebnissen, die man das Jahr über in Wien vermisste. Das ist leichter gesagt als getan.

Wo liegt die Messlatte?

Durch neue Spielorte wie das Tanzquartier und brut sowie den flächendeckenden Intendantenwechsel bei den Wiener Mittelbühnen ist das gegenwärtige Theaterleben weitaus vielfältiger als noch in den 2000er Jahren. Die sogenannte "performative Wende" ist in der Theaterhauptstadt Wien längst angekommen. Der Fachbegriff beschreibt den Paradigmenwechsel in der szenischen Produktion, bei dem es um die Entgrenzung der Künste geht: Was mit einem veränderten Begriff von Schauspiel, Werkcharakter und Zuschauerbeteiligung einhergeht.

Die Kernaufgabe eines Festwochen-Programms, nämlich das Wiener Publikum mit neuen Regiehandschriften und künstlerischen Zugängen zu konfrontieren, mag vor diesem Hintergrund kein leichtes Unterfangen sein. Dennoch bleibt diese Vorgabe die Messlatte für ein derart gut dotiertes Festival.

Großes Welttheater war in diesem Festivaljahrgang bedauerlicherweise kaum auszumachen, mit Ausnahme des Gastspiels von Isabelle Huppert in der "Kirschgarten"-Inszenierung von Tiago Rodrigues: klassisches Schauspielertheater unter französischer Starbeteiligung.

Bei einer weiteren wichtigen Konstante des Festwochen-Programms - Inszenierungen aus dem deutschsprachigen Raum einzuladen - agierte Intendant Christoph Slagmuylder etwas glücklos. Christopher Rüping erstmals nach Wien einzuladen, war zwar ein Coup; der 36-Jährige zählt zu den erfolgreichsten Regisseuren seiner Generation, sein Oeuvre beinhaltet aber weitaus aufregendere Arbeiten als die Wiener Wagner-Dekonstruktion "Der Ring des Nibelungen"; Susanne Kennedys esoterisch angehauchte Deutung der Philip-Glass-Oper "Einstein on the Beach" erwies sich immerhin als Achtungserfolg.

Die Stärke der Festwochen 2022 lag weniger in groß angelegten szenischen Erkundungen, mehr im mittleren Format. In der Halle E blieb der ganz große Jubel aus, die außergewöhnlichen Theatermomente ereigneten sich auf Neben-Spielstätten wie beispielsweise im weit abgelegenen Jugendstiltheater auf den Steinhofgründen.

Praktikable Formate

Auf der stilvollen Bühne überzeugte die Filmschauspielerin Adèle Haenel in Robert Walsers kaum bekanntem Familiendrama "Der Teich" (Regie: Gisélle Vienne). Am selben Ort entwickelte Choreografin Mónica Calle mit "Ich allein habe den Schlüssel zu dieser wilden Parade" einen Tanzabend, der sich durch radikalen Minimalismus auszeichnete: 15 entblößte Männer verausgabten sich mehr als zwei Stunden lang bis zur völligen Erschöpfung. Im Theater Akzent gastierte das australische Back to Back Theatre mit "The Shadow Whose Prey The Hunter Becomes", einer klugen Annäherung an die drohende Übermacht der Künstlichen Intelligenz und der Ohnmacht des Menschen. Auch Anna Rispoli landete auf der Bühne in Wieden einen Hit: In "Close Encounters" sah sich das Publikum in einen Dialog mit Jugendlichen verstrickt. Nachrichten aus der Lebenswelt junger Menschen.

Die brasilianische Künstlerin Christiane Jahaty, soeben mit dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk ausgezeichnet, setzte sich im Odeon in "Depois do Silêncio" auf ästhetisch raffinierte Weise mit dem brutalen Kampf der brasilianischen Landlosen-Bewegung auseinander. Einen ungewöhnlichen Beitrag zur Identitätsdebatte lieferte etwa "L’Aventure invisible" im brut-nordwest: Der schwedische Regisseur und Filmemacher Marcus Lindeen verarbeite darin Interviews mit Menschen, die mit ihrem Da- und Sosein ringen.

Etliche der in Wien gezeigten Inszenierungen waren Koproduktionen mit dem belgischen Kunstenfestivaldesarts, der vorigen Wirkungsstätte Christophe Slagmuylders. In diesem Segment - performatives Theater im praktikablen Tournee-Format - besitzt Slagmuylder ein untrügliches Gespür: Hier erzielten die Einladungen des Intendanten eine anständige Trefferquote.

Das XL-Format hingegen scheint Slagmuylders offensichtlich noch nicht wirklich zu liegen, obwohl sich das Publikum gerade während der Festwochen die große Bühnen-Überwältigung erwarten darf. Mit dem deutschsprachigen Theater, bei dem die Festwochen üblicherweise punkteten, scheint der Festwochen-Chef zudem zu fremdeln. Es gibt also einigen Nachholbedarf. Eines muss man Slagmuylder allerdings zugutehalten: Der Spielplan 2022 wurde unter Pandemiebedingungen entwickelt, Reisen in ferne Theaterwelten waren kaum bis gar nicht möglich. Die Festwochen 2022 sind vorbei. 2023 kann kommen.