"Wiener Zeitung":Bei "Antigone im Amazonas" liegen zwischen Planung und der Premiere am 25. Mai in Wien mehr als drei Jahre, eine weltweite Pandemie und ein Machtwechsel in Brasilien. Wie hat sich das Projekt für Sie entwickelt und verändert?

Milo Rau will "Räume der Solidarität" schaffen. - © apa / Hans Klaus Techt
Milo Rau will "Räume der Solidarität" schaffen. - © apa / Hans Klaus Techt

Milo Rau: Da ist tatsächlich viel passiert. 2019 lernte ich die Landlosenbewegung MST in Brasilien kennen, eine Bewegung, die aus gut zwei Millionen Familien besteht. Ihre Strategie besteht darin, verlassene Farmen zu besetzen und zu bewirtschaften, um sie von der Regierung zugewiesen zu bekommen. Was natürlich nicht reibungslos abläuft. Im Amazonas spielen sich tagtäglich existenzielle Dramen ab: Durch die Abholzung des Regenwalds ist nicht nur die "grüne Lunge" des Planeten gefährdet, sondern auch die dort lebenden Völker und ihre jahrtausendealten Traditionen. Mit Minenprojekten, Staudämmen, Monokulturen schürt die brasilianische Regierung im Bundesstaat Pará seit Jahrzehnten Landkonflikte. Traditionelle Weisheiten prallen hier auf neoliberalen Turbokapitalismus - zwei konträre Denkweisen stehen einander unversöhnt gegenüber. Genau darum geht es auch in "Antigone": Das Stück beginnt mit einem Bürgerkrieg, der siegreiche Herrscher Kreon verbietet, den Staatsfeind Polyneikes zu beerdigen. Seine Schwester Antigone stemmt sich als Einzige gegen das Verbot, für sie ist ein Begräbnis ein Gebot der Menschlichkeit, und das steht weit über der Staatsräson. Bei uns sprechen die indigenen Aktivistinnen und Aktivisten im Namen der Natur und der Menschlichkeit, Antigone wird von der Aktivistin Kay Sara verkörpert. In Europa kann man "Antigone" überhaupt nicht mehr inszenieren.

Einspruch: "Antigone" ist derzeit eines der am meisten gespielten Stücke auf deutschsprachigen Bühnen.

Das mag sein, ich behaupte auch nicht, dass das nicht ein wunderbarer Text ist. Aber als ich "Antigone" mit den Aktivistinnen und Aktivisten in Brasilien gelesen habe, entdeckten wir Aspekte, die ich mit einer rein europäischen Sichtweise nie und nimmer bemerkt hätte.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Aus dem Bürgerkrieg bei "Antigone" wird bei uns das Reenactment eines 1996 stattgefundenen Massakers, bei dem 19 Aktivisten der Landlosenbewegung ums Leben kamen. Die Inszenierung beginnt mit dem Chor der Landlosenbewegung. Erstmals steht damit ein Chor auf der Bühne, der den ursprünglichen Geist der griechischen Tragödie einfängt: Da sind nicht Schauspieler, die einen einstudierten Text rhythmisch wiedergeben, sondern Menschen, die gemeinsam über das sprechen, was sie unmittelbar betrifft und was uns alle angeht: die Rettung des Regenwalds. In meiner Auseinandersetzung mit den Mythen geht es immer um die Frage: Welche politische Konstellation lässt alte Überlieferungen neu zu uns sprechen? Das gilt ganz besonders auch für die Bibel.

Im "Neuen Evangelium", Ihrem Spielfilm aus dem Jahr 2019, ist Jesus ein schwarzer Politaktivist, der in einem süditalienischen Flüchtlingslager für die Rechte afrikanischer Migranten kämpft, die auf den Obst- und Gemüseplantagen ausgebeutet werden. Was interessiert Sie an dieser Form der Aktualisierung?

Jesus war zuallererst ein Mensch, bevor er zu einer biblischen Figur geformt wurde. Dasselbe gilt für die antiken Mythen: Am Anfang dieser Geschichten, die unsere Menschheit prägen und grundieren, standen konkrete Erfahrungen, die mit den Mitteln der Kunst und der Erzählung transzendiert wurden. Ich versuche, einen Kontext zu finden, in dem sich diese ursprüngliche Erfahrung wieder neu herstellen lässt. Was würde Jesus heute predigen? Wo findet gegenwärtig Antigones Kampf statt? Vor welchem Gericht müsste sich Orest Hier und Jetzt verantworten?

Ihre Inszenierung "Orest in Mossul" gastierte 2019 bei den Wiener Festwochen. Vor Gericht stand nicht der Muttermörder Orest, vielmehr wurden IS-Terroristen für ihre Verbrechen an der Bevölkerung zur Rechenschaft gezogen.

In Mossul weist jede Biografie Parallelen zu den Charakteren aus Aischylos’ Tragödie auf, die "Orestie" dorthin zu verlegen, machte auf schreckliche Weise Sinn.

In Ihrer Züricher Poetikvorlesung kritisierten Sie, dass die westliche überinformierte Gesellschaft wider besseren Wissens nichts unternimmt, um die Welt ein Stück weit besser zu machen: "Wissen lähmt." Nun haben Sie die "School of Resistance" gegründet, wollen Sie damit über das Theater hinaus wirksam werden?

Wir versuchen, Räume der Solidarität zu schaffen, in denen Aktivistinnen und Aktivisten sowie Künstlerinnen und Künstler ausder ganzen Welt zusammenkommen, um sich auszutauschen. Das ist anstrengend und braucht Zeit, aber es ist wichtig. Der Widerstand muss globale Perspektiven einnehmen, gewissermaßen auf die Höhe der globalen Waren- und Finanzströme gelangen. Im Augenblick bekämpfen wir mitunter mit lokalem Wissen globale Probleme, das kann schon rein methodisch nicht funktionieren.

Soll auch das Theater eine "School of Resistance" werden, ein Ort der Verhandlung globaler Probleme?

Ja, das wäre doch nicht schlecht! Obwohl mir das zu theoretisch klingt. Theater ist nicht nur Kontext, sondern auch Emotion und Atmosphäre.

Sie sind designierter Intendant der Festwochen, was haben Sie vor?

Darüber kann ich noch nicht sprechen.

Was hat Sie dazu bewogen, sich für Wien zu bewerben?

Mich fasziniert der Mythos Wien - die klassische Moderne, das "Rote Wien". Was Paris im 19. Jahrhundert war, war Wien am Anfang des 20. Jahrhunderts: Wien war das Zentrum des Weltgeistes, von hier aus gingen neue gedankliche und künstlerische Strömungen um die Welt - von der Psychoanalyse über Schönberg bis zur Kunst. Es wundert mich übrigens auch nicht, dass Hitler zu der Zeit in Wien lebte. Mir gefällt an Wien auch die theatrale Auffassung von Öffentlichkeit, dass man sich hier andauernd über irgendetwas aufregt und empört. Die Schweiz ist viel abgeklärter, da gibt es die Haltung: Kennen wir, ist zu teuer. In Wien, scheint mir, wird mehr debattiert - das mag in der Politik und im Alltag anstrengend sein, fürs Theater ist es aber wertvoll.