Der Vater hat die Tochter geopfert. Die Frau hat ihren Mann betrogen und erschlagen; der Sohn wiederum hat die eigene Mutter umgebracht und verliert darüber den Verstand. Braucht es mehr Gräuel? In einer der Vorgeschichten des berühmten Atriden-Mythos werden dem Vater seine eigenen Kinder als Schandmahl aufgetischt. Der jüngste Sohn überlebt, sein Lebensziel lautet fortan: Rache. Mord folgt auf Mord, die Figuren geraten in ein Mahlwerk von Brutalität und Tod. Erst im Schlussakt seiner um 500 v. Chr. entstandenen "Orestie" setzt der griechische Tragödiendichter Aischylos der Blutrache ein Ende - und fügt die göttliche Weisheit mit der menschlichen Vernunft zu einer aufgeklärten Staatsform.

Griff in die Trickkiste

Die "Orestie", einer der ältesten Texte der Menschheit, feiert den Übergang von der alten zu einer neuen Ordnung; er markiert die Geburtsstunde der demokratischen Idee. Bei Aischylos, der das geschriebene Wort mit politischem Handeln gleichsetzte, endete die beklagenswerte Familiensaga der Atriden mit Jubeljauchzen, dem sogenannten Ololygmos.

Gleich geht es ihr an den Kragen: Sebastian Zimmler und Marie Löcker.
Gleich geht es ihr an den Kragen: Sebastian Zimmler und Marie Löcker.

Der formale Minimalismus des antiken Dramas kommt einer Einladung gleich, die Gegenwart aus dem Blickwinkel einer längst vergangenen Epoche neu zu befragen. Wie wohl Ersan Mondtag mit der "Orestie" verfährt?

Der türkisch-deutsche Regisseur, 31, hochgelobter Nachwuchs-Star der Branche, ist nun mit seiner konzentriert-enigmatischen Aischylos-Deutung im Rahmen der Wiener Festwochen zu Gast. Die Bühne im Theater an der Wien ist raumfüllend von Renaissance-Arkaden geschmückt, die an den Antikennachbau des Teatro Olimpico im Nordosten Italiens erinnern. Bald fällt das Bühnenprospekt - und gibt den Blick frei auf ein weißes Bauwerk wie eine Parkhausauffahrt; schließlich dreht sich die Bühne abermals und zeigt einen heruntergekommenen Gemeindebau in Pastell mit blumengeschmückten Balkonen.

Die dreistündige Aufführung bietet einiges an Ausstattung; an Theaterdonner, Blitz und Nebel wird nicht gespart, für Kostüm und Maske wurde tief in die Trickkiste gegriffen (Bühne: Paula Wellmann; Kostüme: Josa Marx; Maske: Julia Wilms). Seltsame Geschöpfe bevölkern in Wien das "Orestie"-Universum: Mit seinen weißen Fellanzügen, bunt angemalten Jäckchen, Langhaarperücken und stürmischen Zopfkreationen sehen das siebenköpfige Ensemble und der 21-köpfige Chor aus, als kämen sie geradewegs vom Hippie-Karnevalsumzug. Alle tragen zudem rote Brillengläser, Masken mit spitzer Nase plus Barthaare und lange Schwänze. Sind Ratten auf der Bühne losgelassen? Labornager? Fabelwesen? Entspricht die wüste Kostümierung dem Verhalten der Figuren? Alles ist möglich. Die Inszenierung legt keine Interpretation nahe. Zum Glück geht das Ensemble seiner Arbeit sprachlich ungeheuer suggestiv und kraftvoll nach, sodass der Aufzug bald aus dem Blick gerät. Die von Max Andrzejewski komponierte Musik und die Geräuscheffekte von Florian Mönks bilden eine effektvolle Klang-Landschaft, in der sich Schauspieler wie Chor (unter Leitung von Uschi Krosch) bestmöglich bewähren. Bis zur Pause wird die bedrohliche Atmosphäre, in der sich das unheilvolle Schicksal der Atriden vollziehen wird, entsprechend aufgebaut. Nach der Pause flacht die Angelegenheit allerdings merklich ab.

Elektra wird von einem Mann (Björn Meyer) gespielt, der die tragische Figur als jämmerliche Karikatur gibt. Einer der Höhepunkt der dreistündigen Inszenierung: der Muttermord, den Regisseur Mondtag glänzend in einem qualvollen Hin und Her zwischen Sebastian Zimmler und Marie Löcker auflöst. Orests Verfolgung durch die Rachegöttinnen fällt anschließend dramaturgisch wieder jäh ab: Zimmler liegt am Boden, raucht einen Joint, redet wirres Zeug, und das ist schon alles. An der berühmten Schlussszene, in der Pallas Athene die Rede an die Bürger hält, in der erstmals demokratische Verpflichtungen und Hoffnungen formuliert werden, scheint der Regisseur dann kein gesondertes Interesse mehr aufgebracht zu haben. Die Inszenierung liefert zwar Text, entschlägt sich aber jeder Deutung. Ist die Demokratie mehr als 2000 Jahre nach Aischylos an einem Ende angelangt, dass bei dem Thema selbst am Theater keine Funken mehr sprühen? Wohl kaum.