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Im Würgegriff von Digitalisierung und Kulturbanausentum

Von Erhard Fürst

Erhard Fürst war Leiter der Abteilung Industrie- und Wirtschaftspolitik in der Industriellenvereinigung.
© privat

Warum es fahrlässig ist, die "Wiener Zeitung" als Tageszeitung einzustellen.


Der Gesetzesentwurf zur "Wiener Zeitung" neu ist in Begutachtung gegangen, die Frist läuft bis Ende November, das Gesetz soll am 1. Juli 2023 in Kraft treten und bis Ende 2023 umgesetzt sein. Dann soll die älteste noch erscheinende Tageszeitung der Welt, die am 8. August 1703 das erste Mal als "Wiennerisches Diarium" gedruckt wurde, Geschichte sein.

Man wusste schon lange, dass die Querfinanzierung der Tageszeitung über das "Amtsblatt" zur "Wiener Zeitung" ein Ende haben würde, nicht zuletzt aufgrund europarechtlicher Vorgaben. Welch Hohn, dass das drohende Ende dieser durch und durch europäisch orientierten Tageszeitung nun mit europäischen Zwängen argumentiert wird!

Lassen wir uns nicht täuschen: Es ist die gegenwärtige Bundesregierung, die das österreichische Kulturerbe "Wiener Zeitung" als gedruckte Tageszeitung in den Orkus schickt. Denken Sie daran, wenn Politiker der aktuellen Regierungskoalition sich über die Bedeutung von Qualitätsjournalismus in einer gespaltenen Gesellschaft mit zunehmend antieuropäischen und autoritären Tendenzen auslassen.

Tatsächlich hat sich die "Wiener Zeitung", angestoßen durch Chefredakteur Andreas Unterberger und fortgeführt durch Reinhard Göweil und Walter Hämmerle, zu einer der besten Tageszeitungen in der kleinen Gruppe von österreichischen Qualitätszeitungen entwickelt, aktuell, international, charakterstark und traditionsbewusst.

Wichtig für die Gesellschaft

In jüngster Zeit haben sich Unterstützungsgruppen gebildet, die den Fortbestand der "Wiener Zeitung" als gedruckte Tageszeitung fordern. Auch der Verband österreichischer Zeitungen hat sich kritisch zum Regierungsplan geäußert. Wenn ÖVP und Grüne keine Zukunft für die Zeitung wollen, wäre es logisch, dieses Projekt in andere Hände zu legen. Es gibt Interessenten. Was fehlt, ist ein starker öffentlicher Auftritt einer innovativen, finanzstarken und unternehmerischen Gruppe von Persönlichkeiten, die sich diesem Projekt aktiv annehmen.

Damit kein Missverständnis entsteht: Auch mehr als drei Jahrhunderte Existenz geben einer Tageszeitung kein Anrecht auf unbegrenztes Überleben. Aber selbst eine kleine Schwächung des Qualitätssegments der österreichischen Tageszeitungen unter den angesprochenen politischen Rahmenbedingungen und in der labilen Situation der Printmedien ist fahrlässig. Wir stehen vor der Mega-Aufgabe, die quasi totale Abhängigkeit vieler junger Menschen von Sozialen Medien und den damit verbundenen negativen Auswüchsen (Fake News, Echokammern, Hass) zu verringern.

Eine kreativ gestaltete, bewusst kontrovers konzipierte Tageszeitung mit aktuellen Gastbeiträgen und einem breiten Kultur- und Sportspiegel könnte einen wertvollen Beitrag leisten, die Lesebereitschaft und -kultur zu fördern, neugierig zu machen, Aggressionen abzubauen, die liberale Gesellschaft zu festigen und persönliche Verantwortungshaltung zu entwickeln. Tempus fugit, an die Arbeit! Die zuständigen Politikerinnen sind die Grüne Sigrid Maurer und die Türkise Susanne Raab sowie, auch ohne Richtlinienkompetenz, Bundeskanzler Karl Nehammer.