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"Wiener Zeitung", mon amour

Von Thomas Seifert

Leitartikel

Das Ende der "Wiener Zeitung" wird besiegelt. Eine Tragödie.


"1703 - 2023" prangt in dicken Lettern auf der Titelseite der Ausgabe der "Wiener Zeitung" vom 27. April. Denn an diesem Donnerstag geht eine Ära zu Ende, wenn mit den Stimmen von ÖVP und Grünen Antrag 3293/A stattgegeben und damit das Ende der Tageszeitung im Plenum des Parlaments besiegelt wird. Nach fast 320 Jahren wird die älteste noch erscheinende Tageszeitung der Welt vom Markt verschwinden.

Für Medienministerin Susanne Raab (ÖVP) und die grüne Mediensprecherin Eva Blimlinger ist Donnerstag kein Endpunkt in der Geschichte der "Wiener Zeitung", sondern das Startdatum eines "Digitalisierungs- und Transformationsprozesses".

Doch um die Frage digital oder Papier geht es nicht.

Es geht darum, den Geist der "Wiener Zeitung" zu erhalten: eine redaktionelle Haltung, die den Zweifel der Affirmation vorzieht und die Reflexion über die Projektion stellt.

Medien sind essenzielle Infrastruktur der Demokratie. Die Republik braucht zu ihrem Funktionieren eine gut informierte Bürgerschaft, die gelernt hat, nachdenklich zu reflektieren, kultiviert zu debattieren und vernunftbegabt zu entscheiden. Dieser Bürgerschaft als Informationsträger und Diskursplattform zu dienen, war und ist die Mission der "Wiener Zeitung". Und je mehr die Tiktokisierung der Gesellschaft mit ihren 15-Sekunden-Videoclips voranschreitet, umso erfrischender ist ein medialer Kontrapunkt mit Mut zur Komplexität und steter Freunde an der Nuance.

Message Control? Nein, Danke!

Man möchte meinen, dass die Republik die "Wiener Zeitung", die sich in ihrem Besitz befindet, wie einen Schatz hütet. Doch schon die Regierungen der Vergangenheit wollten das ungeliebte Medium eigentlich loswerden, alle möglichen Geschäftsbereiche sollten ausgebaut werden, anstatt in die Redaktion und in Technologie zu investieren. Medienministerin Susanne Raab und Grün-Abgeordnete Eva Blimlinger mangelte es an Bereitschaft, der Redaktion eine Chance auf eine Weiterentwicklung des Mediums einzuräumen.

Freilich, es wäre zu billig, die Verantwortung für das Ende der "Wiener Zeitung" in jetziger Form einzig "der Politik" in die Schuhe zu schieben. Auch im Hause "Wiener Zeitung" wurden Fehler gemacht: Der Redaktion ist es nicht gelungen, die Entscheidungsträger für die eigenen Ideen zu begeistern - was nicht zuletzt daran scheiterte, dass Redaktion und Geschäftsführung nicht an einem Strang gezogen haben.

Was nun aus der "Wiener Zeitung" werden soll, ist noch unklar. Klar ist: Die Printausgabe wird wohl Ende Juni eingestellt, die Belegschaft bangt um Arbeitsplätze und der österreichische Zeitungsmarkt wird um einen wichtigen Titel ärmer.