Die zivilisationstheoretischen Studien von Norbert Elias geben Anhaltspunkte dafür, wie die historische Transformation der Verhaltensweisen von Menschen im öffentlichen und privaten Bereich als Zivilisationsprozess abgelaufen sein kann. Dieser Prozess der Humanisierung, von der aktiven Gewaltausübung zu einem zivilisierten und zum Teil nur noch mittelbaren Ausleben von Affekten, mit immer stärker differenziertem Selbstzwang und sozialer Konditionierung, vollzog sich auf der sprachlichen Ebene aber nicht im gleichen Ausmaß. So blieb die Sprache als letzter Hort für die Entladung von Affekten bestehen.
Gegen die Indifferenz
Der Verbalradikalismus ist so alt wie die Sprache selbst und primär durch seine Abweichung von der mitteilenden, berichtenden und erklärenden Sprache gekennzeichnet. Jede verbalradikale Aussage bewegt den Hörenden aufgrund ihrer dominierenden Intention, die stets spontan Zustimmung oder Ablehnung auslöst, doch niemals Indifferenz oder teilnahmslose Kenntnisnahme.
Auch in Österreichs Erster Republik - darin unterschied sich die damalige politische Praxis nicht vom heutigen politischen Diskurs - stellte die politische Sprache keine Fachterminologie dar, sondern eine Mischform, die aus mehreren Fachsprachen und der Alltagssprache zusammengesetzt war. Der tendenzielle Mangel an Präzision war und ist eine wesentliche Voraussetzung für den wirkungspsychologischen Erfolg politischer Sprache, etwa zum Zweck des Gewinnens von Mehrheiten. In der Hoffnung, dass Simplifikationen auch "rhetorische Wahrheiten" zum Vorschein bringen könnten, wurde und wird die Differenziertheit der politischen Sprache so weit reduziert, bis eine gesellschaftliche Mehrheit gewillt ist, dieser zuzustimmen; eine Mehrheit, die von der Mehrdeutigkeit und Nicht-Festlegbarkeit politischer Sprache nicht abgestoßen ist.
Seine größte Breitenwirkung erzielt ein solcher sprachlicher Duktus, wenn er mit Hilfe von Stereotypen Identifikationsräume erzeugt. Die Sprache der politischen Praxis ist darüber hinaus aufgrund ihres Arsenals an rhetorischen Varianten und Spielformen und wegen ihrer Neigung zu ungezügelter Verwendung von Metaphern in der Lage, sich sogar über die grundsätzliche Verpflichtung zur Wahrheit hinwegzusetzen: Anspielungen und Vergleiche geben dem politischen Redner die Möglichkeit, sich vom Gesagten je nach Opportunität rasch zu distanzieren. Je präziser und verantwortungsbewusster der Umgang mit Begriffen und deren Bedeutungen gehandhabt wird, umso enger wird der rhetorische Spielraum.
Das systemimmanente Ziel und die faktische Notwendigkeit, in demokratischen Systemen Mehrheiten zustandebringen zu müssen, wird von politischen Handlungsträgern nur allzu oft als Freibrief oder als Selbstlegitimation missverstanden, in der Praxis sämtliche persuasiven Mittel anwenden zu dürfen, wobei das Spektrum von der Herabwürdigung des politischen Gegners bis hin zur offenen Lüge reicht, wie die politische Philosophin Hannah Arendt nachgewiesen hat.
Sprache und Macht
Sprache und Macht bilden seit jeher eine "unheilige Allianz". Die Erste Republik bietet diesbezüglich ein wahres Lehrstück: von ideologisch-autoritärem Gebrauch über programmatische Rhetorik, suggestive Propaganda bis hin zu manipulativer Sprachlenkung spannt sich der verbale Bogen. Sprachliche Täuschungsmanöver, das Abweichen von der Wahrheit und das Verschärfen eines Tatbestandes sind seit der griechischen Antike zentrale Kritikpunkte am Missbrauch der Rhetorik, welche bereits bei Platon und Aristoteles als Schmeichelei, Täuschung, Überredung und Glaubenerwecken bezeichnet wird, sodass das Mitgeteilte nicht nur als neutrale Mitteilung verstanden werden könne. Zudem spiele die Metaphorik eine wichtige Rolle, also jener Aspekt, unter welchem eine Mitteilung über den Wortsinn hinaus zu verstehen sei.
Zu den ältesten Metaphern, die politische Verwendung fanden und auch heute noch verwendet werden, zählen solche aus dem Bereich der Schifffahrt: der Steuermann , der das Staatsschiff steuert , es auf den richtigen Kurs bringt und damit den sicheren Hafen erreicht , oder andernfalls politischen Schiffbruch erleidet . Metaphern wie Staatskörper und Staatsgebäude erleichtern zwar die Kommunikation, jedoch um den Preis verminderter Präzision. Das Boot ist voll ist eine jener unglückseligen Metaphern, die seit Jahrhunderten in Gebrauch sind. Heute findet sie sich stets dann in einem politischen Kontext wieder, wenn etwa in einem Wahlkampf die Fragen der Migration und Probleme von bzw. mit Asylwerbern öffentlich thematisiert werden.
Ideologische Sprache
Die politische Sprache der Zweiten Republik wurzelt sprachlich auch in den ideologischen Verbalradikalismen der Ersten. Diese Radikalisierung lässt sich paradigmatisch anhand des Parteiprogramms der Sozialdemokratischen Partei, des bekannten "Linzer Programms" von 1926, nachvollziehen. Es zeichnet ein Bild des Austromarxismus in verbalradikaler politischer Sprachgesinnung, welches dazu geeignet war, eine Eskalation des soziopolitischen Diskurses zu begünstigen und zu beschleunigen.