"Wiener Zeitung": Herr Bischof, Sie leben schon sehr lange in einer Welt, die den allermeisten Menschen hier fremd ist. Beschreiben Sie doch bitte: Wie sieht es dort aus, was hört und riecht man?
Erwin Kräutler: Amazonien war einmal eine Welt voller Wasser und riesiger Wälder, ein grüner Ozean. Dies war mein allererster Eindruck, als ich dort vor über fünfzig Jahren eintraf, und es ist ein Bild, das sich mir fest eingeprägt hat. Doch dies ist Geschichte. Der Grund für diese für immer verschwundene Welt ist der Bau der "Transamazonica", die in den siebziger Jahren von der brasilianischen Regierung errichtet wurde. Dieses gigantische Straßennetz hat den Regenwald zerstört, doch die Menschen haben damals das Fällen jedes Baumes bejubelt, weil sie die Wildnis als Hemmschuh betrachteten.
Und heute?
Wenn ich beispielsweise am Oberlauf des Rio Xingu, einem der großen Nebenflüsse des Amazonas, unterwegs bin und eine Reifenpanne habe, finde ich auf einer Strecke von 200 Kilometern keinen einzigen Baum mehr, der Schatten spenden könnte. Gleich, wohin man sich wendet: Man blickt auf kahle Hügel und spürt zugleich den Staub, der einem in die Nase steigt, sowie die brütende Hitze, die einen sofort in Beschlag nimmt.
Laut der UN-Migrationsbehörde IOM planen weltweit Millionen von Menschen ihre Auswanderung. Sie sind den Schritt in eine völlig andere Kultur schon vor langer Zeit gegangen.
Richtig, und diesen Schritt in eine völlig andere Welt habe ich nie bereut, ganz im Gegenteil.
Bei uns begegnet man einem Bischof respektvoll und zugleich distanziert. Sie hingegen sind ein Mensch, der umarmt, und Sie werden umarmt. Waren Sie schon immer so nahbar oder hat Ihre Umgebung Sie dazu gemacht?
Nun ja, die Vorarlberger haben normalerweise den Ruf, dass sie sehr distanziert und trocken sind. Ich war jedoch schon immer ein Gefühlsmensch.
Aber haben Sie die Gefühle auch gezeigt?
Wenn ich ehrlich bin: nein. Aber die Menschen in Brasilien haben mich mit ihrer Art beeindruckt. Schließlich kann ich schlecht steif stehen bleiben, wenn ich umarmt werde. Das ist ein Brauch, dem ich mich gern angepasst habe, weil es ein schönes Zeichen dafür ist, dass man sich mag. Nur Händeschütteln bin ich nicht mehr gewohnt. Wissen Sie, was man sich in Österreich kaum vorstellen kann?
Nämlich?
Während des Gottesdienstes trage ich eine weiße Stola und die muss ich manchmal in die Reinigung bringen, weil sie immer wieder voller Lippenstift ist. Das liegt daran, dass viele Menschen etwas kleiner sind als ich und der Kuss eben nicht mehr auf meiner Wange, sondern auf der Stola landet. Ich erinnere mich an ein Pfarrfest, bei dem mich die Leute unverwandt anstarrten und sich kichernd anstießen. Irgendwann fasste eine Dame Mut und fragte mich, ob ich schon in den Spiegel geschaut hätte. Als ich das tat, sah ich den sehr deutlichen Abdruck eines Kussmundes auf meiner Wange. Das ist ein schönes Beispiel für die sehr große Herzlichkeit der Menschen, für die Körperkontakt etwas vollkommen Normales darstellt.