Im Sommer letzten Jahres lenkte Amazon ein: Die Bundeswettbewerbsbehörde (BWB) in Österreich konnte erreichen, dass Amazon Services Europe
S.à.r.l. einen Teil seiner Geschäftspraktiken gegenüber österreichischen
Händlern verändert. Die außergerichtliche Einigung hat weltweit die
Position der Händler, die auf Amazon verkaufen, gestärkt. Das
Wettbewerbsrecht und das Kartellrecht wären den digitalen
Geschäftsmodellen sogar gewachsen, der Rechtspraxis fehlen aber
notwendige Klarstellungen, Anwendungsbeispiele und einheitliche
Regelungen, meint der Generaldirektor der BWB, Theodor Thanner, im
Interview.
"Wiener Zeitung": Amazon hat nach den Untersuchungen Ihrer Behörde im August letzten Jahres seine Geschäftsordnung in einigen Punkten zugunsten der Position der Händler, die auf dem Amazon Marktplatz verkaufen, verändert. Ist es rückblickend gut gewesen, sich außergerichtlich zu einigen?
Theodor Thanner: Es gibt insgesamt acht Änderungen bei den Geschäftsbedingungen. Das ist ein großer Schritt. Gerichtsverfahren dauern lange und insofern ist es für die Händler besser, wenn es einen Konsens im Gespräch gibt. Es gibt Bereiche, wo ein solcher Konsens nicht möglich ist, bei Kartellfragen etwa.
Ist Amazon nach diesem Erfolg kein Thema mehr für die BWB?
Das Verfahren ist zunächst geschlossen, es gibt nur noch sehr wenige Beschwerden von Händlern. Das heißt aber nicht, dass wir Amazon aus den Augen lassen: Wir werden evaluieren, ob sich Amazon an die Vereinbarungen hält oder ob Schritte notwendig sind. Es gibt auch eine Clearingstelle bei der Wirtschaftskammer, wo versucht wird, bilateral Lösungen zu finden.
Das Wettbewerbsrecht wird aktiv, wenn ein Missbrauch der Marktmacht vorliegt. Ist das bei Amazon nicht der Fall? Aus der Befragung der Händler im Zuge der BWB-Recherchen im letzten Jahr geht hervor, dass ein Großteil der Händler keine Alternativen zu dem Amazon Marktplatz sieht.
Die BWB beobachtet Amazon hier sehr genau. Durch die Abänderung der Geschäftsbedingungen konnte eine rasche Hilfe für die Händler und Händlerinnen gefunden werden. Allerdings ist der Verdacht des Missbrauchs der Marktmacht für Amazon nicht vom Tisch, da unsere Kollegen und Kolleginnen der Europäischen Kommission ebenfalls eine Untersuchung gegen Amazon eingeleitet haben.
Die EU-Kommission prüft, ob Amazon die Daten des Amazon Marktplatzes für Amazon Retail, also die eigenen Verkäufe, nutzt. Damit stehen die Daten im Mittelpunkt eines Wettbewerbsverfahrens. Ist das Wettbewerbs- bzw. das Kartellrecht den neuen Geschäftsmodellen gewachsen?
Die Europäische Kommission prüft, ob die Geschäftspraktiken von Amazon und die Doppelrolle als Marktplatz und Einzelhändler mit den EU-Wettbewerbsregeln vereinbar sind. Die neuen Geschäftsmodelle sind jedenfalls eine Herausforderung. Nehmen wir das Beispiel der Werbung: Je mehr Kunden eine Plattform hat, desto mehr Daten werden generiert, die wiederum mehr Kunden bedeuten. So entstehen Wettbewerbsvorteile: Wer stärker ist, kann mehr einnehmen. Erfolgreich Geschäfte zu machen, ist per se ja nichts Schlechtes. Es ist nur die Frage, ob Wettbewerb noch möglich ist, wenn das Geschäftsmodell derartige Netzwerkeffekte auslöst.
Ist denn noch Wettbewerb möglich?
Die Wirkung auf den Wettbewerb ist in einem Verfahren schwer nachzuweisen. Man sieht das an den langen Verfahrensdauern bei den Wettbewerbsverfahren der EU-Kommission: Das erste große Verfahren gegen Google hat sieben Jahre gedauert, von 2010 bis 2017. Man hat die Herausforderungen erkannt, aber die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht angepasst. In den letzten zehn Jahren hat es viele Fusionen und Zusammenschlüsse gegeben: Google, Amazon und Facebook haben jede Menge Unternehmen gekauft, die sich in vielen Bereichen so ergänzen, dass die Technologieunternehmen zu Universaldienstleistern werden. Die einfachen Nutzer geraten in eine komplette Abhängigkeit. Wenn sie der Nutzung ihrer Daten nicht zustimmen, können sie die Dienste nicht nutzen. Hinzu kommt: Die Unternehmen sind weltweit tätig. Ein Unternehmen aus Österreich, das ein ähnliches Geschäftsmodell entwickeln möchte, nehmen wir etwa Shöpping, hat es entsprechend schwer: Es ist nicht weltweit tätig und hat auch nicht die Abdeckung. Daher kann es nur auf einer europäischen Ebene eine Lösung für die Frage des Wettbewerbs geben.
Wie müssten solche Lösungen aussehen?
Das österreichische wie auch das EU-Kartellrecht und das EU-Wettbewerbsrecht bieten ganz grundsätzlich viel Spielraum, um auf die Strukturveränderungen von Märkten zu reagieren, die von einzelnen marktmächtigen Akteuren ausgehen. Das Problem ist, dass manche Regelungen nur auf nationaler Ebene gelten, manche wiederum nur auf EU-Ebene und wichtige Klarstellungen fehlen. In der Rechtspraxis werden die Möglichkeiten des bestehenden Rechts oft nicht ausgeschöpft, weil die Durchsetzungswege noch nicht bekannt sind. Es fehlt an Anwendungsbeispielen. Bei der Fusionskontrolle wiederum gibt es unterschiedliche Regelungen, ab wann eine wettbewerbsrechtliche Prüfung erfolgen muss. Grundsätzlich ist es möglich, auch da zukünftige Netzwerkeffekte, die durch den Aufkauf von Unternehmen entstehen, zu berücksichtigen.
Mit Amazon Webservices, Amazon Retail, Amazon Marketplace, Amazon Alexa, Amazon Logistik inklusive eigener Flugzeugflotte etc. verfügt Amazon über ein ganzes Netz an Dienstleistungen, die sich gegenseitig stützen. Besteht die rechtliche Möglichkeit, Amazon zu zerschlagen?
Die Frage ist, ob eine Zerschlagung politisch realisierbar ist. Ich sehe derzeit keine Grundlage für ein solches Vorgehen. Sollte es dazu kommen, müsste man auch die zahlreichen anderen Fusionen, etwa von Facebook und Whatsapp, rückgängig machen. Dafür sehe ich gerade nicht die politische Durchsetzbarkeit.
Vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern sind nachhaltige und regionale Produkte ein Anliegen. Digitalkonzerne wie Amazon scheinen dem entgegen zu stehen, weil ihre Geschäftsmodelle nicht darauf abzielen. Kann das Wettbewerbsrecht auch wirtschaftspolitisch etwas bewirken?
Es gibt ein gesamtwirtschaftliches Interesse an Wohlstand und Beschäftigung. Daher muss es ein Ziel sein, von wenigen großen Anbietern unabhängig zu werden. Ich sehe durchaus Chancen für eine Green Policy auch im Wettbewerbsrecht. Derzeit spielen Kriterien, wie etwa Nachhaltigkeit oder die Wirkung des Zusammenschlusses auf eine Region, wettbewerbsrechtlich noch keine Rolle, obwohl etwa das Fusionsrecht solche Kriterien miteinbeziehen könnte.
Mit der Marktmacht von Amazon und anderen Digitalkonzernen geht theoretisch auch eine entsprechende juristische Durchsetzungsmacht einher. Sind die Behörden auf europäischer und nationaler Ebene ein ausreichendes Gegengewicht?
Wenn man sich auf die Hinterbeine stellt, schon. Wir sind in Österreich eine der kleinsten Wettbewerbsbehörden in Europa und stehen oft hoch qualifizierten internationalen Anwaltskanzleien gegenüber, aber wir sind dennoch effektiv in der Durchsetzung. Derzeit ist eine EU-Richtlinie auf dem Weg, die eine adäquate budgetäre Ausstattung für die
Wettbewerbsbehörden von den nationalen Regierungen verlangt, die im nächsten Jahr umgesetzt sein muss. Das ist auf jeden Fall wichtig, weil die Anforderungen zunehmen. Wir haben in den letzten Jahren etwa sehr viel in die IT-Forensik investiert.
Facebook, Google und Amazon haben ihre Lobbyingaktivitäten in Brüssel sehr stark ausgeweitet. Sie beschäftigen ganze Anwaltskanzleien, verteilen aber, wie zum Beispiel Facebook, mitunter auch einfach Kaffee an die Abgeordneten des EU-Parlaments. Sind Sie selbst auch schon mal das Ziel von Lobbying geworden?
Ich würde von Facebook keinen Kaffee annehmen. Interessensbekundungen zu bekommen, gehört in gewisser Weise zum Geschäft. Es ist auch legitim, die eigenen Interessen zu artikulieren. Problematisch wird es dann, wenn diese Interessensbekundungen nicht transparent sind.
Die großen fünf scheinen den Weltmarkt für digitale Dienstleistungen ziemlich unter sich aufgeteilt zu haben. Ihre einzige Konkurrenz sind Alibaba, Tencent, Baidu – ebenfalls Riesenkonzerne. Bleibt eigentlich noch Zeit, die Regeln dieses Spiels zu verändern?
Zu spät ist es nie. Das kann es nicht sein. Der Wettbewerb bestimmt nicht nur den Preis oder die Qualität einer Dienstleistung, sondern auch Innovation. Wenn man den Wettbewerb wegdenkt, was bleibt? Die Einheitspizza für alle. Wer den Markt beherrscht, muss sich weniger anstrengen.
