Ein "Google für die Radiologie" soll contextflow  einmal werden. So erklären es die Gründer gegenüber Laien. Doch contextflow ist eigentlich viel mehr und technologisch wie medizinisch anspruchsvoll: Mithilfe von Deep Learning wird eine Software trainiert, in medizinischen Bildquellen etwa von CT- oder MRT-Scans Muster zu erkennen und dazu Vergleichsdaten aus sekundären Quellen, zum Beispiel aus weiteren Datenbanken oder auch aus Textquellen zu finden und darzustellen – und dies alles innerhalb von Sekunden.

Diagnosen sollen auf diese Weise schneller und präziser werden. Neben dem einzelnen CT-Scan einer Lunge beispielsweise hätte ein Arzt oder ein Radiologe zugleich die Scans verwandter Fälle und weitere relevante Daten zur Verfügung. Informationen, die ein einzelner Mediziner niemals schnell genug beschaffen oder verarbeiten könnte, die aber entscheidend für eine Diagnose sein können. Contextflow wirbt entsprechend mit dem Claim "See beyond a single case". Das bedeutet sinngemäß übersetzt: "Über den einzelnen Fall hinaussehen". Contextflow hat den Anspruch, die Vielfalt der Daten, die der heutigen Medizin zur Verfügung stehen, für bessere Diagnosen auch verwertbar zu machen.

Contextflow in einem Büro des Inkubator I2C der TU Wien in Wien. Ohne Riskokapital wäre das Start-up nicht möglich. - © Christoph Liebentritt
Contextflow in einem Büro des Inkubator I2C der TU Wien in Wien. Ohne Riskokapital wäre das Start-up nicht möglich. - © Christoph Liebentritt

Das Start-up sitzt derzeit im Incubation Innovation Center i2c der TU Wien in der Floragasse im vierten Bezirk von Wien. Die TU Wien unterstützt junge Start-ups auf diese Weise mit Räumlichkeiten und Infrastruktur. Contextflow arbeitet gerade an der Vorbereitung zur Zulassung für den amerikanischen Markt. Gelingt dies, kann das Start-up aus Wien einen globalen Markt erreichen.

Vom EU-Projekt zum Start-up

An der Entwicklung der Suchmaschine arbeiten insgesamt fünfzehn Mitarbeiter. Der Algorithmus beruht auf Deep Learning und soll nach einer Kennzeichnung des zu untersuchenden Bereichs eines Bildes den behandelnden Radiologen innerhalb kürzester Zeit alle verfügbaren medizinischen Informationen zur Verfügung stellen.

Diese Idee ist nicht neu, hat aber aufgrund der enormen Zunahme an Daten an Brisanz gewonnen.

Die ursprüngliche Idee des Start-ups, das in dieser Form seit Juli 2016 besteht, reicht schon auf das Jahr 2010 zurück, auf ein EU-Projekt mit dem Namen Khresmoi, das bis 2014 lief. Universitäten und Unternehmen arbeiteten gemeinsam an einer verbesserten Informationsbeschaffung für die Medizin. Aus Wien waren die TU Wien und die Medizinische Universität Wien beteiligt. Urprünglich war contextflow auch an der MedUni angesiedelt, die auch heute ein Partner ist. "Das EU Projekt hatte zwölf Partner und eine Gesamtfördersumme von acht Millionen Euro. Dafür war ungefähr ein Viertel für die Radiologie gedacht. Aus diesen zwei Millionen Euro ist dann das Start-up entstanden. Dort wurde ein erster Prototyp der Suchmaschine entwickelt, der dann als Basis für ein Spin-off diente, das in der Folge zu einem Produkt weiterentwickelt wurde", erzählt Allan Hanbury, Professor für Data Intelligence an der TU Wien und einer der vier Gründer von contextflow.

Allan Hanbury ist Professor für Data Intelligence an der TU Wien und einer der vier Gründer von Contextflow. Die Erfahrungen mit der Gründung des Start-ups seien eine Bereicherung für die Grundlagenforschung, meint er. - © Christoph Liebentritt
Allan Hanbury ist Professor für Data Intelligence an der TU Wien und einer der vier Gründer von Contextflow. Die Erfahrungen mit der Gründung des Start-ups seien eine Bereicherung für die Grundlagenforschung, meint er. - © Christoph Liebentritt

Mittlerweile ist freilich nicht nur einiges an Zeit vergangen, sondern auch viel Entwicklungsarbeit geleistet worden. Aus dem ersten Prototyp, bei dem die Suche noch eine ganze Minute gedauert hatte und die Stabilität des Systems von ständiger Betreuung durch eine Entwicklerin oder einen Entwickler abhängig war, ist ein echtes Produkt geworden, das derzeit gemeinsam mit Radiologen an Kliniken und Krankenhäusern getestet und dabei weiterentwickelt wird. Die Suchmaschine liefert bessere Ergebnisse, eigenständig, in einer Sekunde, und es ist in der Europäischen Union bereits als Medizinprodukt zugelassen. Nun versucht contextflow, die Zulassung auf dem US-Markt zu erreichen. Dieser Vorgang ist ähnlich komplex wie die Zulassung in der EU und erfordert die Abstimmung mit den Richtlinien der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA). Derzeit ist ein einziger Mitarbeiter fast ausschließlich mit diesem Prozess beschäftigt.

Für spätere Versionen der Software sind weiterführende Features geplant. Teilweise ist schon klar, welche Funktionen und Aufgaben sie verwirklichen sollen, andere werden sich aus dem Feedback der Radiologen, die contextflow bereits einsetzen, im Laufe der Zeit ergeben. Die Suchmaschine ist als Plug-in für den bestehenden Standard im Radiologiebereich, das Picture Archiving and Communication System (PACS) konzipiert worden. PACS wird verwendet, um Daten wie etwa CT oder MR Aufnahmen zu speichern und darzustellen. Contextflow will die Software später auch über die Händler des PACS vertreiben.

So wie sich die zur Verfügung stehenden Daten und Bildquellen stetig vervielfältigen, wird sich auch contextflow stetig weiterentwickeln. Von einem endgültigen Abschluss der Entwicklung kann aus technischer Sicht aber ohnehin niemals die Rede sein, denn, so Hanbury: "Software ist niemals fertig."

Lange Entwicklungszeiten in der Medizintechnik

Die Tatsache, dass die Idee, auf der contextflow gründet, bis in das Jahr 2010 zurückreicht, weist auf ein Problem hin, mit dem insbesondere Start-ups und Projekte aus dem Gesundheitsbereich konfrontiert sind: "Im medizinischen Bereich liegt eine ziemlich lange Strecke zwischen der Erstellung eines Produkts und dem Zeitpunkt, ab dem das Produkt dann tatsächlich verkauft werden kann. Um diese Strecke zu überstehen, brauchen wir Risikokapital", erklärt Hanbury.

Die Entwicklungszeiten bei hochtechnologischen Produkten sind in der Regel besonders lang, weil die technischen Herausforderungen groß sind. Im medizinischen Bereich kommen rechtliche Erfordernisse hinzu, die erfüllt sein müssen, damit ein Produkt überhaupt für einen Markt zugelassen werden und verkauft werden kann.

Wenngleich Österreich tendenziell den Ruf habe, ein schwieriger Standort für Risikokapital zu sein, kann das Team von contextflow in dieser Hinsicht zufrieden sein: So konnten aus Österreich der Risikokapital-Fonds Apex Ventures als Lead-Investor und der Risikofonds des Institute of Science and Technology Austria IST Cube in Klosterneuburg gewonnen werden. Im Oktober erst kamen die Fonds Crista Galli Ventures aus London und Nina Ventures aus Barcelona als weitere Investoren hinzu.

Markus Holzer ist der CEO und einer der vier Gründer von Contextflow. Seine Aufgabe ist es, die technische Entwicklung mit dem finanziell Machbaren im Einklang zu halten. Derzeit geht es bei Contextflow um die Zulassung der Software durch die Federal Drug Administration (FDA) für den US-Markt. - © Christoph Liebentritt
Markus Holzer ist der CEO und einer der vier Gründer von Contextflow. Seine Aufgabe ist es, die technische Entwicklung mit dem finanziell Machbaren im Einklang zu halten. Derzeit geht es bei Contextflow um die Zulassung der Software durch die Federal Drug Administration (FDA) für den US-Markt. - © Christoph Liebentritt

Trotz dieser günstigen Ausgangslage ist auch contextflow denselben Problemen ausgesetzt, die Start-ups im Allgemeinen plagen oder herausfordern. Geschäftsführer Markus Holzer muss den sogenannten "Runway" immer genau im Kopf behalten. Nämlich, wie weit die aktuell gesicherte Finanzierung noch reicht, um die technische Entwicklung genau darauf abzustimmen. Immer wieder stellt sich die Frage, welches in der zur Verfügung stehenden Zeit realisierbare Ergebnis die Chancen auf eine weitere Investition erhöhen wird. In diesem Kontext gilt es auch, die unmittelbare Konkurrenz und das weitere Feld im Auge zu behalten. Contextflow kann ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber den sehr zahlreichen anderen Start-ups im Radiologiebereich vorweisen: Während die Konkurrenz die Diagnostik mit Hilfe von künstlicher Intelligenz automatisieren will, strebt contextflow danach, dem Radiologen genau die Informationen zu beschaffen, die für seine Befundung relevant sind. Diagnose und Befund bleiben in seiner Kontrolle.

Nicht nur die Finanzierung ist untrennbar mit der technischen Entwicklung verwoben, sondern auch die rechtlichen Bedingungen: Neben den Anforderungen an die Zulassung als Medizinprodukt ist auch das Datenschutzrecht eine Einflussgröße.

Der entwickelte Algorithmus basiert auf Deep Learning, einer speziellen Art von Machine Learning, und ist auf die Verwertung einer großen Anzahl bereits ausgewerteter Daten angewiesen. Hanbury erklärt: "Deep Learning ist eine Weiterentwicklung von Machine Learning, die durch ein Modell der Funktionsweise des menschlichen Gehirns inspiriert worden ist. Dieses Modell ist zwar schlecht darin, diese Funktionsweise des Gehirns darzustellen, aber dafür unglaublich gut im Erkennen von Mustern. Deswegen wird Deep Learning jetzt allgemein sehr viel und auch in unserer Suchmaschine verwendet, um Ähnlichkeiten zwischen unterschiedlichen Mustern zu berechnen."

Lerneffekte aus der Anwendung

Die Unterstützung, die contextflow durch den i2c Inkubator der TU Wien erfährt, kann Hanbury nur in höchsten Tönen loben. Gerade die Vermittlung von Kontakten und die Unterstützung bei wirtschaftlichen Fragen seien hervorzuheben. Der Standort Wien weise ein stetig wachsendes Ökosystem auf.

Einzig eine juristische Nachbesserung wäre wünschenswert, meint der Professor für Data Intelligence: Während es im Silicon Valley schon lange gang und gäbe sei, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Anteilen am Unternehmen zu beteiligen, sei dies in Österreich nur mit erheblichem Aufwand möglich.

Für Hanbury, der von der Universität kommend erstmals an einem Start-up beteiligt ist, ist die Unternehmensgründung eine fachlich bereichernde Erfahrung. Der Universitätsprofessor kann sich eine weitere Beteiligung an derartigen Projekten gut vorstellen: "Viele Probleme, von denen wir in der Grundlagenforschung nicht wirklich wissen, dass es sie gibt, kommen aus der angewandten Forschung und werden dann ein Grundlagenthema. Das Spiel zwischen den zweien ist wichtig. Der Lerneffekt ist so positiv, dass ich gerne weitermachen würde. Das bedeutet auch, dass ich viele Geschichten zu erzählen habe – es macht auch die Vorlesungen spannender."

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Printausgabe der "Digitalen Republik" am 27. November 2019, ein Verlagsprodukt aus der Content Production der "Wiener Zeitung".