Wenn man ein Kind mit Autismus hat, probiert man vieles, eigentlich alles, aus", beschreibt Christof Goetz die Motivation, die zu "Brain Hero" geführt hat. Der Zufall führte Christof und seine Frau Christine Hartlieb-Goetz zur richtigen Zeit an den richtigen Ort. Das war in jenem Fall das Wiener AKH, wo sie mit ihrer Tochter an einem Programm der MedUni Wien teilnahmen, bei dem spielerisch versucht wurde, Kindern mit Autismus Gefühle verständlich zu machen. Etwa zeitgleich meinte die Therapeutin der Tochter, Neurofeedback wäre eine interessante Idee für Kinder mit Autismus.
In Christof Goetz reifte die Idee, ein Spiel auf Basis von Neurofeedback zu erschaffen. Er engagierte einen TU-Studenten, um zu analysieren, was in Studien bislang zum Thema herausgefunden worden war. Mit Unterstützung von Neurowissenschaftlern und Medizintechnikern sowie der Med Uni Wien, begann er systematisch herauszufiltern, an welchen Punkten im Gehirn Kinder mit Autismus über Neurofeedback ansprechen und mit welchen Stromfrequenzen und Spielarten man dabei arbeiten müsste.

Eine Idee, viele Puzzlesteine
Die Idee war es, ein Spiel für den Heimgebrauch zu konzipieren. Im Gegensatz zum 20.000 Euro teuren EEG im AKH wollte man mit einem kleinen günstigen Gerät auskommen. Was im Spital bis zu 15 Minuten dauerte, das Anbringen der Elektroden am Kopf und die Kalibrierung auf die Gehirnströme des Patienten, musste schneller gehen, denn: "Zehn Minuten sind für Kinder mit Autismus ziemlich lange. Dann piksen die Elektroden noch, jemand kommt einem sehr nahe. Und das alles noch in einer fremden Umgebung. Ein Kind mit Autismus ist tagelang davor schon nervös, weil dies seinen üblichen Tagesablauf durcheinanderbringt", erläutert Christine Hartlieb-Goetz.
Das Ehepaar begann die Puzzlesteine für seine Idee zusammenzusuchen: Neben dem kleineren EEG sollten die Elektroden ohne Kontaktflüssigkeit funktionieren, welche die jungen Patienten irritierte. Mit Kochsalzlösung ist man derzeit noch bei einem Zwischenschritt, künftig soll es ganz ohne Flüssigkeit gehen.
Das Spiel musste ohne Musik interessant, aber nicht aufregend sein und einen sympathischen Helden haben. Es musste schnell zu starten sein – die Kalibrierung dauert mittlerweile nur 30 Sekunden. Außerdem durften keine Kabel am Patienten hängen. Bluetooth-Datenübertragung war also Pflicht. Zudem sollte das Spiel auf gängigen mobilen Geräten wie Handy oder Tablet funktionieren. Und am wichtigsten: Es musste leicht und nonverbal bedienbar sein, denn etwa ein Drittel der Kinder mit Autismus können nicht oder nur sehr eingeschränkt sprechen. Auch sie sollten aber möglichst eigenständig spielen können.
Basteleien und Versuche
"Nach den umfangreichen Recherchen und gezielter Unterstützung von Neurofeedback-Experten haben wir die Punkte und Frequenzen identifiziert, die für uns Sinn machten. Dann bastelten wir einen Prototyp. Dafür fand sich ein Open-Source-Hardware-EEG. Wir haben aber lange gebraucht, um die richtige Befestigung am Kopf zu finden", erzählt der engagierte Vater vom mühsamen Start.

"Den ersten Patienten hatten wir ja zu Hause. Unsere Tochter weigerte sich aber, den schweren Helm aus dem 3D-Drucker aufzusetzen, den wir ursprünglich hatten", ergänzt seine nicht minder engagierte Frau. Irgendwann kam ihnen die Idee mit den Gummibändern. Dabei handelt es sich tatsächlich um Hosenträger-Gummis, geben die beiden lachend zu. Ein Silikonpolster macht das Gerät zum Kopf hin angenehmer zu tragen.
Im Spiel jagt der Patient als bunter Held nach Keksen und muss dafür hinauf- und hinunterfliegen. Hinauf geht es mit Konzentration – Kopfrechnen, Vokabeltraining oder ähnlichem. Hinunter per Entspannung. Da mache sich ihr Yoga-Training bezahlt, konstatiert Christine Hartlieb-Goetz bei der Vorführung. Die Patienten benötigen anfangs noch Hilfestellungen der Eltern, die sie etwa befragen oder zur Entspannung animieren. Mit der Zeit "weiß" das Gehirn aber von allein, was zu tun ist, versichert das Eltern-/Unternehmer-Paar.

Held am Start
Mit "Brain Hero" fand das heldenhafte Duo noch einen passenden Namen und konnte ihr eigenes Kind endlich überzeugen zu spielen. Aber es dauerte noch Monate, bis sich erste Ergebnisse zeigten, zunächst schwach, dann immer deutlicher. "Nach zwei Monaten bemerkten Leute, die unsere Tochter länger nicht gesehen hatten, Veränderungen in ihrem Verhalten. Nach drei Monaten kamen positive Rückmeldungen aus der Schule. Dann schlief das Kind plötzlich durch, das hatte sie davor nie geschafft. Das sind schleichende Veränderungen, aber irgendwann waren wir uns sicher: Es funktioniert", lässt Christine Hartlieb-Goetz ahnen, wie viel bange Hoffnung, Geduld, Hartnäckigkeit und Disziplin hinter dem Projekt "Brain Hero" stecken.
Disziplin braucht es auch, damit die Patienten im Alter zwischen sechs und 16 Jahren von "Brain Hero" profitieren. Die Kinder müssen drei- bis viermal die Woche mehrere Monate lang spielen, damit sich eindeutige Resultate zeigen. "Wobei es sich eher nach Hausübungen anfühlt als nach Spielen", meint das Paar.

Wo Neuronen feuern
Aber wie funktioniert das Neurofeedback-Spiel genau? "Wir arbeiten mit vielen Hypothesen, denn das Gehirn ist noch sehr unerforscht. Der Punkt am Kopf, an dem wir ansetzen, weist bei Kindern mit Autismus einen erhöhten Stromwert auf. Die Vermutung ist, dass hier besonders viele Neuronen abgefeuert werden. Durch das Spielen, die bewusste Konzentration und Entspannung, reduziert sich dieser Wert. Dann kommen die Signale ungestörter durch, und die sozialen Bereiche des Gehirns können besser interagieren. Das bemerkt man dann an bestimmten Messwerten im EEG." Es ist die Entwicklung von sozialen Kompetenzen, die bei der Therapie von Menschen mit Autismus stets das Ziel ist.
Derzeit läuft "Brain Hero" noch in der Betaphase, mit einem Dutzend Patienten. Die Spieler sind also noch eine geschlossene Community. Der Weg in die Zukunft ist aber bereits durchgeplant, lässt Christof Goetz erkennen: "Ab Jänner 2020 sollen pro Monat 20 neue Benutzer hinzukommen." Vorsichtig will man sich herantasten, wie das derzeit 16-köpfige Team die steigende Nutzeranzahl bewältigen und gleichzeitig die Forschung vorantreiben kann.
Spiel als Medizin
Auch die Hardware wird weiterentwickelt. Ende 2021 wollen die engagierten Eltern "Brain Hero" als Medizinprodukt auf den Markt schicken. Dann wird das bis dahin selbst entwickelte mobile EEG der neuen Medizinverordnung gerecht sein: mit 24 Elektroden, die die Hirnströme auslesen und ein komplettes EEG erstellen können.
Kosten soll das Gerät für Therapeuten dann ca. 1.500 Euro, für Eltern wird eine kleinere Version auch als Mietgerät verfügbar sein. Im Moment kosten die ersten beiden Monate Evaluierung 149 Euro, dann 99 Euro pro Monat.
Die Rohdaten werden via Bluetooth und Internetverbindung auf die drei in der EU befindlichen Server der Firma übertragen, von wo sie mittels Schlüssel nur vom "Brain Hero"-Team ausgelesen werden können. "Wir haben uns von Anfang an mit den hohen Anforderungen bei Patientendaten auseinandergesetzt, das ist eine lange Liste", erläutert Christof Goetz. Seine Erfahrung als Unternehmensberater im IT-Bereich und IT-Audit hilft ihm, dabei den Überblick zu behalten.
Wird "Brain Hero" als Medizinprodukt zugelassen, spiele man "in einer ganz anderen, glaubwürdigeren Liga", freut sich Christine Hartlieb-Goetz schon. Das wird wohl auch die Finanzierung erleichtern. Bislang hat das Paar eine Viertelmillion eigenes Kapital in ihr Unternehmen gesteckt. 200.000 Euro kamen von der Wirtschaftsagentur, 600.000 Euro vom AWS. Weitere 450.000 Euro wollen sie via Wandeldarlehen noch einsammeln sowie weitere Fördermittel beantragen.
Belohnt fühlt sich das Elternpaar aber bereits, geht es ihrer Tochter doch besser. Und: "Man sieht sich nicht mehr nur als Opfer, kann etwas tun", so Christine Hartlieb-Goetz.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Printausgabe der "Digitalen Republik" am 18. Dezember 2019, ein Verlagsprodukt aus der Content Production der "Wiener Zeitung".