"Wiener Zeitung": IT-Unternehmen haben Probleme, weiblichen Nachwuchs zu finden – woran liegt das?

Melissa Di Donato: Da muss man bis in die Ausbildung, sogar in die Schulzeit zurückblicken. Wir haben so viele männliche Software-Entwickler, weil wir den jungen Burschen die Technik in die Hände gedrückt haben, und die haben daraus ein Hobby gemacht. Technik wurde bislang aber kein Mädchen-Hobby. Frauen wurden die tollen Seiten des Entwicklerberufs einfach nicht gezeigt. Es ist also ein Erziehungsproblem. Ich erziehe meine Tochter ebenso wie meine Söhne dazu, zu erkennen, wie wichtig Technik ist.

"Ein herausforderndes Arbeitsumfeld mit Home-Office und flexiblen Arbeitszeiten ist toll, aber nicht für alle Frauen."

Melissa Di Donato

Was sind denn die tollen Seiten an IT-Jobs?

Ein herausforderndes Arbeitsumfeld mit Home-Office und flexiblen Arbeitszeiten ist toll, aber nicht für alle Frauen. Manche wollen auch mal abschalten, nicht verfügbar sein. Aber bei Verkauf und Vertrieb ist das schwierig. Außerdem muss man da sehr selbstbewusst auftreten und auch einmal Konfrontationen aushalten. Das fällt Frauen deutlich schwerer als Männern. Wir müssen uns also bemühen, die Kultur bei Verkauf und Vertrieb zu ändern. Bei SAP hatten wir freitags eine Frauen-Kaffeerunde, wo man sich austauschen konnte, sich gegenseitig unterstützen.

Sie erwähnten zuvor, dass Frauen sich ein angenehmes Arbeitsumfeld wünschen, was bedeutet das?

Entscheidend ist die Unternehmenskultur, die Atmosphäre, der Umgang der Mitarbeiter miteinander. Die Unternehmensführung kann hier wichtige Weichen stellen. Wir müssen ein Umfeld schaffen, in dem es nicht in Ordnung ist, Mitarbeiter einzuschüchtern, sie herunterzumachen, wenn sie ihre Kinder mittags abholen müssen oder einen Tag frei brauchen, um sie zum Arzt zu bringen. Wir müssen dafür sorgen, dass jeder dem anderen freundlich und hilfsbereit begegnet. Die Unternehmen werden Mitarbeiter verlieren, wenn sie es nicht schaffen, einem Mangel an Offenheit und Inklusion entgegenzuwirken. Viele Frauen entscheiden sich immerhin, ihre Familie für den Beruf zurückzustellen. Da sollte die Arbeit dann schon besser richtig gut sein.

Ist es für Frauen leichter in großen Unternehmen Fuß zu fassen oder in Start-ups?

Das kommt auf den jeweiligen Charakter an. Nicht jeder oder jede passt überall hin. Für die einen ist ein Großunternehmen perfekt, dort kann man einem vorgezeichneten Karrierepfad folgen. Und es gibt mehr Karriere-Möglichkeiten, unter denen man wählen kann. In kleinen Unternehmen muss man aktiver sein, seinen Weg eher selbst definieren. Unternehmertypen sind in kleinen Firmen besser aufgehoben, weil sie eigene Ideen haben und dort leichter Dinge aufbauen können.

Die IT-Branche hat unterschiedlichste Jobs zu bieten. In welchen Bereichen der IT-Unternehmen arbeiten die meisten Frauen, in welchen die wenigsten?

Im Marketing und Human Resources sind normalerweise die meisten Frauen anzutreffen. In meinem Unternehmen ist es interessanterweise umgekehrt: Da sind die Chefs dieser Abteilungen Männer und der Finanzvorstand ist eine Frau. Einen Frauenmangel gibt es also nicht nur im Software-Bereich, sondern quer durch die Unternehmen, aber bei der Software-Entwicklung ist er besonders gravierend.

Ist das Nerd-Image der Software-Entwickler ein Hindernis für junge Frauen?

Ja, aber das ist doch Vergangenheit! Das war so, als ich anfing. Bei SUSE lebt man Open Source, wir verstecken uns nicht in Hinterzimmern, wir kommunizieren, kollaborieren, arbeiten in Teams zusammen. In der Open Source-Welt existiert das Image des Nerds so einfach nicht mehr.

Wo liegt dann das Problem?

Menschen sind gerne mit Gleichgesinnten zusammen. Wenn eine Frau in einen Raum kommt und feststellt, sie ist das einzige weibliche Wesen dort, ist das nicht für jede angenehm, insbesondere wenn sie introvertiert ist.

Wie überzeugt man Frauen dann von Technikjobs?

Manche meiner Kollegen versuchen ihren Töchtern beizubringen, dass Programmieren cool ist. Sie wollen dann, dass ich mit den Mädchen rede. Sie zeigen ihnen Fotos von mir und sagen: "Schau mal, das ist Melissa. Sie ist auch Programmiererin." Und dann sagen die Mädchen meist: "Aber sie sieht gar nicht so aus. Sie hat lange Haare, trägt Make-up und hohe Absätze. Sie sieht sehr feminin aus." Diese Mädchen können mich nicht mit dem Programmieren in Verbindung bringen. Wenn dann die Eltern sagen: "Du könntest programmieren UND glamourös aussehen", dann denken sie womöglich um. Daher ist es so wichtig Vorbilder zu haben, sie sichtbar zu machen.

Google war im November 2018 erstmals mit der Wut seiner Mitarbeiterinnen konfrontiert nachdem bekannt wurde, dass Andy Rubin, ein höherer Manager, eine Abfertigung in Millionenhöhe erhielt, nachdem er wegen sexueller Belästigung gehen musste. Sind Aktionen wie diese Walkouts und Sitins bei Google ein Indiz dafür, dass Frauen selbstbewusster für ihre Rechte kämpfen?

Frauen sind heute besser ausgebildet und damit auch selbstbewusster. Wir bekommen mehr Gehör und mehr Akzeptanz für unsere Anliegen. Meiner Meinung nach brauchen wir nicht unbedingt Walkouts, aber wir müssen über unsere Probleme reden. Tun wir das nicht, wird sich nichts ändern. Und Frauen sind heute eher bereit, beruflich mehr zu verlangen.

Welche Faktoren bringen Frauen dazu, die IT wieder zu verlassen, wenn sie schon dort gearbeitet haben?

Wir haben herausgefunden, dass nach zehn Jahren wesentlich mehr Frauen, nämlich 40 Prozent, als Männer (17 Prozent) ihren IT-Job hinter sich lassen. Als Grund dafür nannten sie das Arbeitsumfeld und dass ihnen Steine in den Weg gelegt wurden. Mentoring und weibliche Vorbilder könnten hier hilfreich sein. Gerade in dem Moment, in dem Frauen anfangen unsicher zu werden, ob der Job wirklich das Richtige für sie ist, ob sie tatsächlich in der IT weitermachen wollen, oft als einzige Frau weit und breit, könnte Mentoring hilfreich sein. Ich glaube wirklich, dass Mentoren eine entscheidende Rolle spielen könnten, um Hindernisse zu überwinden. Dies könnte für Frauen entscheidender sein als für Männer. Laut einer aktuellen Studie ist auch das Verdienstpotenzial größer, wenn man einen Mentor hat, denn so steigt die Wahrscheinlichkeit, durchzuhalten.

Worauf müssen sich Frauen im Technologieumfeld einstellen?

In der IT verändert sich die Welt rasend schnell. Geht man auf Mutterschaftsurlaub und kommt zurück, sieht es plötzlich ganz anders aus. Jedenfalls war das so bei mir. Ich kam nach drei Monaten zurück und hatte das Gefühl, ich wäre in Mexiko aufgewacht, so anders war alles. Für manche Frauen ist das ein großes Problem. Sie wollen Stabilität, sie wollen stetige Veränderungen und nicht plötzliche. Das ist eine Erwartungshaltung, die wir überwinden müssten, um auf Veränderungen besser reagieren zu können.

Auf welche Weise können Mentoren da helfen?

Mentoring ist eine persönliche berufliche Beziehung, bei der ein Mentor andere Erfahrungen hat als man selbst. Das bedeutet nicht automatisch, dass der Mentor älter sein muss. Wichtig ist, dass man eine andere Perspektive bekommt. Ein Mentor hat kein anderes Interesse an seinem Mentee als dessen Erfolg. Ich empfehle üblicherweise drei Mentoren: Das sorgt für Diversität bei den Perspektiven. Ein Mentor kommt nicht aus dem engeren Arbeitsumfeld, etwa aus der eigenen Abteilung. Ich könnte also kein Mentor sein für eines meiner Teammitglieder. Im eigenen Unternehmen würde man so eine Person einen Sponsor nennen, jemand, der einem hilft, aufzusteigen. Ein Mentor begleitet einen auf der gesamten Karrierereise, nicht nur in einem bestimmten Unternehmen.

Wie findet man einen Mentor?

Gute Frage. Man geht zu Konferenzen, Events, sieht sich Vortragende an, sucht nach Leuten, die einen inspirieren. Jetzt geht aber man nicht zu diesen Personen und fragt "Wollen Sie mein Mentor sein?" Die Antwort wäre ziemlich wahrscheinlich: "Keine Zeit, sorry". Besser man sagt: "Können Sie mir einen Mentor empfehlen?" Man kann auch den eigenen Chef fragen, ob er oder sie einen Mentor empfehlen könnte. Tatsächlich kamen meine fünf letzten Mentees alle durch Empfehlung ihrer Vorgesetzten zu mir.

In Österreich ist das Konzept des Mentorings nicht sehr verbreitet, vielleicht weil die Menschen nicht gerne zugeben, Hilfe zu brauchen.

Es ist hart zuzugeben, dass man Hilfe braucht, das verstehe ich schon. Aber jemanden zu fragen, ob er oder sie Mentor sein möchte, ist ein Riesenkompliment. Da geht es weniger darum, um Hilfe zu bitten als in die Zukunft zu planen, mögliche weitere Schritte für die Karriere zu überdenken und Inspiration zu bekommen. Ich denke, was den Karriereweg speziell von Frauen betrifft, wäre das sehr wichtig, um sie zu bestärken, nicht, um einzelne Probleme zu lösen. Frauen planen auch gerne weiter voraus.

"Wir müssen über unsere Probleme reden. Tun wir das nicht, wird sich nichts ändern."

Melissa Di Donato

Haben Sie von den Ratschlägen eines Mentors profitiert?

Ja, derjenige, der mir sagte: "Melissa, es ist Zeit, CEO zu werden!" war damals sogar mein Boss, also eher ein informeller Mentor. Allerdings verließ er SAP gerade. Er wollte mir helfen, sah mein Potenzial. Manchmal ist es auch an uns, dem oberen Management, uns umzusehen, zu überlegen, wie wir helfen können. Und wir müssen uns auch überlegen, wie wir weibliche High Potentials unterstützen können, für sie Mentoren organisieren und so ihren Berufsweg erleichtern können.

Sie hatten auch einen Mentor, der Ihnen riet, zu SAP zu gehen?

Tatsächlich, den hatte ich. Er sagte: "SAP, das könnte was werden!" Das war in den 90ern. Und ich wusste nicht einmal, was SAP war! "Oh, das unterstützt irgendwie das Geschäft, so ein Technologie-Zeug eben", meinte er darauf. Also machte ich das.

Sie waren mutig!

Na ja, ich war an einem schwierigen Punkt angelangt. Eigentlich wollte ich in die Politik gehen und die erste weibliche US-Botschafterin in Russland werden. Ich studierte Russisch-Dolmetsch und Wirtschaft, arbeitete am Tag, lernte in der Nacht. Ich machte meine ersten zwei Abschlüsse in zweieinhalb Jahren. Und ich hatte unglaubliche Schulden wegen der Studiengebühren. Ich war kurz vor dem Abschluss der beiden Studien und stellte fest, dass ich mit einem Job in der Politik meine Schulden nicht würde bezahlen können. Ich war in einer finanziellen Zwickmühle. Also ging ich zum Rektor der Universität und fragte ihn, was ich tun könnte, ob er eine Alternative für mich wüsste. Und da sagte er: "Sie müssen in die Technologiebranche gehen. Sie sprechen fünf Sprachen, gehen Sie zu SAP, das ist dieses Ding für Enterprise Resource Planning." Ich wollte wissen, ob ich da wohl genug Geld verdienen könnte, er bejahte, also machte ich das.

Und wie ging es dann für Sie weiter?

Ich bekam einen Praktikumsplatz bei Hewlett Packard, die R3 von SAP implementierten. Mein Mentor meinte, so könnte ich mir Wissen aneignen und sehen, ob es für mich passte. Also wurde ich Software-Entwicklerin, ohne vorher irgendetwas Technisches gemacht zu haben. Ich wollte ja eigentlich in die Politik, hatte keinerlei Vorkenntnisse. Mit Mühe und Not konnte ich damals meinen Lebenslauf am PC schreiben. Und dann ging ich zu den Unternehmen und beriet sie bei ihrer ERP-Strategie, bei Verkauf und Vertrieb, Logistik!

Wie lange hat es gedauert, bis sie SAP programmieren konnten?

Ein Jahr bin ich auf die Academy, das SAP-Ausbildungsprogramm, gegangen und habe alle Zertifikate, Abschlüsse und Ausbildungen gemacht. Ich werde nie vergessen, wie wir 300 Absolventen der Academy 1996 in einem Raum saßen und dann hieß es, sie bräuchten jemanden für Russland, doppeltes Gehalt. Und ich hob meine Hand, ich war die einzige Frau im Raum und sagte: "Ich bin Melissa Di Donato, ich mache das. Und übrigens, ich spreche auch Russisch!"

Sie kamen wegen des Geldes und blieben - warum?

Mein Traum war wahr geworden. Es ging steil bergauf, sieben Beförderungen in sieben Jahren. Natürlich war die Academy hart gewesen für mich, aber ich liebte dieses Leben: viele Reisen, viele Veränderungen und diese Geschwindigkeit der Innovation! Das war eine großartige Zeit. Geld war von da an zweitrangig. Ich fühlte einfach, dass es genau das richtige für mich war.

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Ein Beitrag aus der "Digitalen Republik", ein Verlagsprodukt aus der Content Production der "Wiener Zeitung".