Rudolf Kinsky hat eine Vision: Er will in Österreich einen Risikokapital-Dachfonds mit Staatsgarantie für Start-ups etablieren, insbesondere für Hochtechnologie-Start-ups. Ohne einen solchen Fonds, so seine Argumentation, verliert Österreich den Anschluss in Sachen Innovation und außerdem viel Geld, das – statt etwa auf Sparbüchern zu liegen – besser in innovative Unternehmen investiert wäre.
"Nehmen wir N26", sagt der Präsident der AVCO, dem Interessensverband der Private-Equity-Geber in Österreich. "N26 hat sich von vorneherein nicht in Österreich angesiedelt, weil sie wussten, sie bekommen hier keine Anschlussfinanzierung. Sie sind stattdessen nach Berlin gegangen." In Berlin hat die Online-Bank mit 3,5 Millionen Kunden in 26 Ländern heute 1.000 Mitarbeiter. 608 Millionen Euro Wagniskapital stecken in dem 2013 gegründeten Unternehmen. Das Geld kommt unter anderem von der deutschen Versicherung Allianz, dem chinesischen Konzern Tencent und Gic, einem Investmentfonds des Staates Singapur. Im Oktober eröffnete die Bank, die sechs Jahre nach ihrer Gründung noch Verluste schreibt, einen Technologiestandort in Wien. "Wir verlieren Know-how, Innovationen, Arbeitsplätze und Wachstum, weil wir in Österreich keinen funktionierenden vorbörslichen Kapitalmarkt haben", sagt Kinsky. Es sei an der Zeit, endlich auch große institutionelle Investoren wie die Pensionskassen an der Risikofinanzierung zu beteiligen. Dafür will Kinsky eine Staatsgarantie für den Fonds: "Wir haben in Österreich schlicht zu wenig Risikokapital."
Gebremste Innovationen
Die AVCO ist mit ihrer Einschätzung nicht allein. Schützenhilfe für den Plan des staatlich abgesicherten Risikofonds und rechtlicher Erleichterungen für Wagniskapitalgeber kommt unter anderem vom Rat für Forschung- und Technologieentwicklung in Österreich. Dieser schlägt einen "Wachstumsfonds" vor und will das Geld in forschungsintensive Start-ups investiert sehen: "Ohne einen leistungsstarken Markt für Wagniskapital wird Österreich auch künftig ein stagnierendes Start-up-Ökosystem aufweisen", sagt Gerhard Reitschuler vom Forschungsrat. Vor allem kleine und mittlere Unternehmen sowie Start-ups in der Frühphase würden von besseren Bedingungen für Risikokapital in Österreich profitieren, argumentiert der Rat.
Stocken Innovationen in Österreich, weil das Risikokapital fehlt? Welche Art von Innovation bekommt man, wenn mehr Risikokapital im Spiel ist?

Risikokapital: Die öffentliche Hand investiert in Europa am meisten
Venture-Capital-Fonds bestehen aus Kapital vermögender Einzelpersonen oder institutioneller Investoren, wie etwa Pensionskassen oder Versicherungen. Die Fonds steigen meist ein, wenn ein Start-up eine vielversprechende Idee oder Technologie hat, aber noch kein zu Ende entwickeltes Produkt oder einen Markt.
Das Risiko zu scheitern ist groß: Die Idee kann technologisch überholt oder von rechtlichen Hürden behindert werden, sie kann aber auch gänzlich fehlschlagen. Nach fünf bis sechs Jahren steigen die Fonds in der Regel aus. Erwartet wird üblicherweise eine Verdreifachung des eingesetzten Kapitals.
Während der weltgrößte Risikokapitalfonds, der Vision Fund, 100 Milliarden Dollar schwer ist und sich in den letzten zehn Jahren mit jeweils zweistelligen Millionenbeträgen an Start-ups wie Uber, Slack oder WeWork beteiligt und die Bewertungen der Unternehmen entsprechend aufgebläht hat, sind die Summen, um die es in Österreich bzw. Europa geht, vergleichsweise gering: Invest Europe, das europäische Äquivalent zur AVCO, hat für 2018 11,4 Milliarden Euro Venture-Capital in europäischen Fonds gemessen. Das gilt bereits als Rekord. 18 Prozent davon stammen aus staatlichen Beteiligungen, etwa vom European Investment Fund (EIF).
2018 wurden in Österreich insgesamt 160 Millionen Euro Beteiligungskapital (Private Equity und Risikokapital) neu aufgenommen.
Von diesen 160 Millionen stammten 35 Millionen von Agenturen des Bundes wie der Forschungsförderungsgesellschaft FFG oder der Austria Wirtschaftsservice (AWS). 2018 hatten Venture-Capital-Investitionen hierzulande insgesamt einen Anteil am BIP von 0,02 Prozent. Dänemark, das als Innovationsleader gilt, kommt auf einen Anteil von 0,095 Prozent, in etwa das Fünffache.
Zwei Millionen für die Seedphase
Aufgrund ihres geringen Volumens sind die europäischen Fonds vor allem in der Frühphase von Start-ups aktiv: "In der Seedphase bewegt sich der Einsatz der Fonds in Österreich in der Regel um die zwei Millionen Euro" sagt Kinsky. Contextflow etwa, ein Wiener Start-up, das dabei ist, eine Art "Google für Radiologen" zu entwickeln setzt das Geld unter anderem dafür ein, die AI-basierte Suchmaschinensoftware gemeinsam mit Kliniken und Universitätspartnern zu trainieren und zu verbessern. In dieser Phase geht es nicht nur darum, ein möglichst gutes Produkt zu machen, sondern auch, den Markt vorzubereiten: "Die Partner sollen zu Kunden werden", sagt Kinsky.

Contextflow ist jetzt in einer kritischen Phase, die eine weitere Finanzierungsrunde benötigt: Das Start-up, das Kinsky als Beraterdes Fonds Apex Ventures mitbetreut, will seine Software perspektivisch auch auf dem US-amerikanischen Markt anbieten und bereitet sich auf die Zulassungsprüfung durch die Federal Drug Administration (FDA) vor: "Wir denken jetzt die erste erwachsene Finanzierung, die Series A, an. Das sind in Österreich üblicherweise zwischen 5 und 15 Millionen Euro. Das ist ausreichend, um eine Internationalisierung und die FDA-Zulassung hinzubekommen – auch in der Hoffnung, dass wir amerikanische Investoren gewinnen," so Kinsky. Ab der Series A geht es in Österreich nicht mehr ohne die Beteiligung ausländischer Investoren. "Mehr als zwei bis drei Millionen Euro können Sie mit rein österreichischem Venture-Capital nicht abdecken", sagt Kinsky.
Ein unterentwickelter Kapitalmarkt
Der vom Forschungsrat vorgeschlagene und von der AVCO unterstützte Wachstumsfonds mit einem anvisierten Volumen von 300 Millionen Euro soll nun zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Die AVCO hofft auf einen "Katalysatoreffekt". Die staatliche Garantie soll es institutionellen Investoren, etwa den Pensionskassen, ermöglichen, in den Fonds zu investieren und so das Volumen des Risikokapitalmarkts erhöhen. Das größere Volumen soll ausländische Fonds nach Österreich holen. Der Forschungsrat erwartet ebenso wie die AVCO, dass österreichisches Venture-Capital häufiger die Rolle des Leadinvestors übernehmen kann, der auch Finanzierungsrunden ab der Series A abdeckt. Damit soll sichergestellt werden, dass die Start-ups auch über die unmittelbare Seedphase hinaus in Österreich bleiben.
Der Wirtschaftswissenschaftler Christian Keuschnigg vom Wirtschaftspolitischen Zentrum hat im Auftrag des Forschungsrates den Beitrag von Wagniskapital für Innovation untersucht, um den Vorschlag zu unterstützen. Er kommt zu dem Schluss: "Ein Mangel an Risikokapital kann zu einem echten Investitions- und Innovationshemmnis werden."
"Die Unterfinanzierung von jungen, innovativen Unternehmen ist tatsächlich eine chronische Schwäche des österreichischen Innovationssystems", sagt auch Bernhard Sagmeister, Geschäftsführer der AWS. Die AWS ist eine der zentralen staatlichen Förderstellen für mittelständische Unternehmen in Österreich und eine wichtige Risikokapitalgeberin für Start-ups. "Wir springen für Investitionen ein, die eigentlich vom Kapitalmarkt kommen sollten", so Sagmeister.
Für Biotech und Medizin fehlt das Geld
Besonders betroffen vom Marktversagen seien Unternehmen in den Bereichen IKT oder Biotech, erklärt Sagmeister: "Je entwicklungsintensiver ein Unternehmen ist, desto stärker fällt ein Kapitalmangel ins Gewicht." Weil Lead-Investoren stets die Nähe zu ihren Investments suchen, da sie sich stark in Management und Marketing einbringen, sei es im Sinne eines Innovationsstandortes wichtig, Venture-Capital vor Ort zu haben, sonst wanderten gerade die vielversprechenden Start-ups ab bzw. entstünden von vorneherein woanders. Hinzukomme, dass der Kapitalbedarf "aufgrund der erfreulichen Marktdynamik bei innovativen Neugründungen" für Start-ups in Österreich gestiegen sei.
"Die Bedeutung von Venture-Capital im Bereich Biotech hat in den letzten zehn Jahren deutlich zugenommen", bestätigt Andreas Schmidt. Schmidt ist Molekularbiologe und der Gründer von Ayoxxa Biosystems und Proteona. Beide Unternehmen sind unter anderem mit Risikokapital finanziert und bewegen sich auf technologisch herausforderndem Neuland, der Proteogenomik. Proteona etwa hat eine Technologie für die Einzelzellanalyse entwickelt, die genetische und proteomische Daten kombiniert."Vor zehn Jahren konnte man die Venture-Capital-Fonds noch klar einteilen, in VCs die in IT investieren, in Facebook und Google, und die anderen, die in Biotech investieren", sagt Schmidt. Diese Einteilung sei inzwischen obsolet: "Die meisten Themen rund um Gesundheit sind wie in der IT datengetriebene Themen."
Datenbasierte Geschäftsmodelle besonders atrraktiv
Dank der Digitalisierung und der enormen Beschleunigung der Datenverarbeitung konnten sich in Biotech und Pharma neue Geschäftsmodelle etablieren, die für Venture-Capital attraktiv sind, weil sie Skalierbarkeit und schnelles Wachstum versprechen. Gesundheit ist ein Milliardenmarkt. "Dass Venture-Capital die Skalierbarkeit sucht, ist sicher richtig", sagt Kinsky. "Wenn wir zu den Teams sagen Ihr müsst groß denken, meinen wir immer den globalen Markt."
Die meisten der jetzt entstehenden Venture-Capital-Fonds werden versuchen, auf erprobte digitale Geschäftsmodelle aufzusetzen, glaubt Kinsky.
Ein prominentes Beispiel aus Österreich ist die Diabetiker-Plattform "MySugr". Der Pharmakonzern Roche war in dem Moment bereit kolportierte 200 Millionen Euro für das Start-up zu zahlen, als MySugr mehr als eine Million Nutzer hatte. "Diese Daten sind der eigentliche Wert", sagt Kinsky.
Interessant für Risikokapitalgeber sind auch Plattformen wie MyTomorrows. Das Start-up aus den Niederlanden vermittelt diagnostische Tests und Medikamente, die noch nicht zugelassen sind, an Patienten und Ärzte, die keine anderen Therapien finden können. Die Vermittlung ist für Patienten und Ärzte kostenlos bzw. zahlen sie – wie so oft – mit ihren Daten: Für Pharmakonzerne ergeben sich wertvolle Erkenntnisse zur Verbesserung der Therapien. Auch Methoden, die die Pipeline der Medikamentenentwicklung und -zulassung verkürzen, ziehen das Interesse von Risikokapital auf sich: "Bei Apex Ventures schauen wir uns gerade ein Start-up an, das die Selektion von Testpersonen wesentlich effizienter macht", erzählt Kinsky. "Auch daraus kann sich ein Geschäftsmodell ergeben."
Risikokapitalgeber tun sich allerdings mitunter noch schwer, die Geschäftsmodelle der Daten-Medizin richtig einzuschätzen, meint der Molekularbiologe Schmidt. Er nennt ein Beispiel: "Viele haben das Business Modell von Foundation Medicine, die die Wirksamkeit von Medikamenten genetisch abschätzen können, mit vielleicht 100 Millionen Dollar bewertet. Letztlich hat Foundation Medicine aber eine Valuation von etwas über fünf Milliarden Dollar erreicht."
Risikokapital sei nicht immer die geeignete Form der Finanzierung. Schmidt verweist auf Aescuvest, eine Crowdinvesting-Plattform des European Institute of Technology (EIT), die auf den Gesundheitssektor spezialisiert ist.
Vor dem Hintergrund steigender Therapiekosten sei es wichtig, eine große Bandbreite an Finanzierungsinstrumenten zu haben und Risiken wie Profite etwa mittels Crowdinvesting breiter zu streuen: "Das ist besonders relevant, weil wir gerade erleben, wie sich völlig auf den Kopf dreht, wie ein Medikament hergestellt wird", sagt Schmidt. "Bis vor zwanzig Jahren war ein Medikament einfach ein chemisches Molekül. Heute sind es biologische Moleküle, bald wird Zelltherapie der Standard sein. Wenn wir diese Art der Präzisionsmedizin wollen, brauchen wir die Start-ups und die Leute, die mit den Daten so umgehen können, dass es dem Patienten nutzt. Die müssen auch daran verdienen können. Weil sie es sonst einfach nicht machen."
Öffentliches Geld, private Gewinne
Gen- und Zelltherapien sind kostspielig und besonders risikoreich. Das Ludwig Boltzmann Institut für Health Technology Assessment (LBI HTA) hat kürzlich versucht herauszufinden, wieviel die öffentliche Hand eigentlich zur Medikamentenentwicklung beiträgt. Im Fall von "Spinraza", ein Medikament zur Behandlung spinaler Muskelatrophie, das bei der ersten Dosis 750.000 Dollar kostet, betrug der Anteil philanthropischer und öffentlicher Förderung 165 Millionen Euro.
"Es gibt keine transparente Kostenrechnung", sagt Claudia Wild, Leiterin des LBI HTA. "Man müsste eigentlich den gesamten Innovationsprozess nachzeichnen und mit Preisen versehen."
Eine solche Abrechnung gibt es bislang nicht. Claudia Wild gibt zu bedenken: "Die besonders risikoreiche Forschung wird – zumindest bei den Medikamenten – öffentlich finanziert. Die Unternehmen kommen erst ins Spiel, wenn das Risiko abschätzbar ist." Auch Start-ups wie MySugr und contextflow gäbe es nicht ohne Geld der öffentlichen Hand. Contextflow etwa geht auf ein 2010 bis 2014 laufendes Forschungsprojekt des 7. EU-Forschungsrahmenprogramms zurück, das mit acht Millionen Euro gefördert wurde.
Größte Wachstumschancen im Fokus
Ohne die öffentliche Hand geht auch im Bereich Risikokapital, zumindest in Europa und in Österreich, nichts. Der Europäische Investitionsfonds EIF und die österreichische AWS sind praktisch an allen Start-ups und allen Fonds beteiligt, die in Europa bzw. Österreich entstehen. Risikofonds wie Speedinvest oder Apex Ventures gäbe es nicht ohne die AWS. Jeder eingesetzte Euro mobilisiere das fünffache an privatem Risikokapital, sagt Bernhard Sagmeister. Dennoch: "Man muss bei neuen Initiativen wie dem Dachfonds auf eine vernünftige Risiko-Balance zwischen privaten Investoren und der öffentlichen Hand achten. Es gilt sicherzustellen, dass nicht die Gewinne privatisiert und das Risiko verstaatlicht werden."
Karl Heinz Leitner ist Innovationsforscher am AIT Austrian Institute of Technology und leitet unter anderem den Austrian Start-up Monitor: "Risikokapital fokussiert auf die Märkte mit den größten Wachstumschancen", sagt er. "Das kann nicht jedes Start-up bieten." Leicht skalierbare Geschäftsmodelle, wie si das Risikokapital sucht, erzwingen ein besonders schnelles Wachstum, denn die Konkurrenz ist umso größer, je schneller sich ein Geschäftsmodell global ausbreiten kann. "Nachhaltigkeit, die kein Wachstum verspricht, ist daher keine primäre Zielgröße für Venture Capital."
Ein Dachfonds für Wagniskapital wie ihn Forschungsrat und AVCO vorschlagen brauche daher komplementäre Anreize, damit in gesellschaftlich wünschenswerten Bereichen innoviert werde, so Leitner: "Innovationen sind nicht nur für Wachstum da, sondern zur Lösung der großen gesellschaftlichen Probleme."
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Printausgabe der "Digitalen Republik" am 27. November 2019, ein Verlagsprodukt aus der Content Production der "Wiener Zeitung".