Schutzgebiet

Seit 2003 gehört Österreichs einziges "Strenges Naturreservat" zur Kategorie 1a der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN). Nichts darf man ihm entnehmen, nichts hinzufügen. Auch der Mensch muss draußen bleiben, ausgenommen Besucher, Mitarbeiter der Schutzverwaltung und Wissenschafter.

Eingebettet ist der Urwald in das Wildnisgebiet Dürrenstein an der Grenze zur Steiermark. Das Gebiet ist ebenfalls geschützt, das Betreten streng geregelt: Es herrscht Wegpflicht, in vielen Teilen ist der Zutritt verboten. Das Wildnisgebiet dient als Pufferzone für den Primärwald und besteht aus Naturwäldern und solchen, die es noch werden sollen. Ältere Bestände im Osten konnten sich seit dem 17., 18. Jahrhundert halten, während aus den ehemaligen Fichtenmonokulturen der Forstwirtschaft wieder Wildnis werden soll.

Schlangen-Bärlapp
Rispige Graslilie

Dass man wachsen lässt, was wächst, ist nur ein Kriterium für Wildnis. Hinzu kommen Abgeschiedenheit, Einsamkeit, das Fehlen von künstlichem Licht. Außerdem dient das Gebiet als Reservat für Organismen, die es außerhalb fast gar nicht mehr gibt.

Hin und wieder verirren sich auch ganz ungewöhnliche Pflanzen dorthin. Die Gemeine Natternzunge zum Beispiel, ein besonderer Farn, der eigentlich nur in Feuchtgebieten wächst, mit einen Sporenstängel ähnlich dem Spitzwegerich und 480 Chromosomen. Doch auch andere Pflanzen, die man beim Durchwandern des Gebietes sieht, haben es in sich: der Weiße Germer etwa oder der Wolfs-Eisenhut, nicht umsonst Erbschaftskraut genannt: Beide sind hochgiftig, nicht einmal berühren sollte man sie.

Gewöhnliche Natternzunge
Wolfs-Eisenhut
Brauntrote Stendelwurz

Auch in diesen Wäldern fällt gleich der immense Unterschied zu Nutzwäldern auf: alte Bäume, krumme Bäume, kaputte Bäume: gespalten, abgebrochen, tot oder sterbend, übersät mit verschiedenen Flechten, Moosen, Pilzen und Baumschwämmen. Bäume ragen auf Felsen empor, manche Wurzeln schlängeln wie Mangroven aus dem Boden: Kadaververjüngung.

Und nirgendwo sonst sieht man so viele Holzgewächse, deren Stämme oberhalb des Bodens elegant geschwungen, in Fallrichtung verbogen sind, bevor sie gerade in die Höhe wachsen. Sichel- oder Säbelwuchs nennt man diese Form, die entsteht, wenn sich junge Bäume dem Gewicht des Schnees beugen müssen. Zwar sind diese drehwüchsigen Hölzer mechanisch viel belastbarer, aber schwer zu verarbeiten – Stämme wie diese wären für Sägewerke unbrauchbar. Doch hier werden sie nicht ausgesondert. Im Wildnisgebiet sind sie ganz normal.

1000jährige Eibe
Sichelwuchs
Zunderschwamm
Lichtvorteil

Insekten, allen voran Schwebefliegenschwärme, brummen, dazu zwitschern Vögel, die man allerdings kaum sieht. Scheu ist auch das Gams- und Rotwild. Andere wilde Tiere wie Bären oder Wölfe etwa, gibt es keine mehr. „Die wurden verschwunden“, sagt der Ranger. Dafür sind unter anderem der Dreizehensprecht, Alpenbock, das Auerhuhn oder neuerdings auch Habichtskäutze hier zuhause.

Die Schutzzone des Wildnisgebiets ist der perfekte Ort, sich zu verirren. Die Einstiege zu den schmalen Pfaden sind versteckt und unscheinbar, oft federt man auf weichen, von Laub oder Nadeln bedeckten Böden dahin, kriecht unter umgestürzten Bäumen hindurch, klettert über morsche Bäume oder wandert durch Buchenwäldchen und Zwergenwälder aus Fichten und Tannen hindurch, die Erinnerungen an Christbaumplantagen wecken. Tausende junge Nadelbäume wachsen hier, aber nur wenige erreichen das Erwachsenenalter, viele verlieren den Kampf ums Licht.

Mal rauscht der Bach, mal rauscht der Wald. Es geht durch Dickichte von hohen, ausladenden Farnen, entlang struppiger Bärlapp-Teppiche und dazwischen immer wieder durch Wälder mit hochgewachsenen, alten Baumriesen. Ein besonderes Fichtenexemplar mit abgebrochenen Ästen, die wie Stacheln waagrecht aus dem Stamm schießen, dürfte an die 250 Jahre alt sein, an vielen Stellen ist die Rinde schon weggebrochen.

Andere Bäume sind am Sterben, darauf weisen die vielen Baumschwämmen hin, bei so manchen hat der Borkenkäfer zugeschlagen. Doch dieser wird im Wildnisgebiet nicht bekämpft: „Wo kein Nutzen, da auch kein Schaden“, sagt Hans Zehetner. „Ein vitaler Baum produziert so viel Harz, dass der Borkenkäfer ihm nichts anhaben kann. Ist ein Baum befallen, warnt dieser über das Wurzelsystem die anderen und der Käfer muss sich andere Gehölzer suchen.“ Der Wald braucht Störungen, sie sorgen für Stabilität und Resilienz.

Wurzeln
Fallwild
Larve
Unterholz
Vierfleckbock

Derzeit umfasste das Wildnisgebiet Dürrenstein eine Fläche von 3.500 Hektar, in den nächsten Jahren will die Steiermark mit 5.600 Hektar Naturwaldgebiet daran andocken. Doch auch trotz einer Erweiterung bleibt das Gebiet zu klein. Zu klein, um es vor einer regelmäßigen Störung durch den Menschen zu verschonen: Flugzeuge. Denn selbst eine Überflugverbotszone wie über den riesigen Wäldern Kanadas oder Skandinaviens etwa würde die regelmäßige Lärmverschmutzung von oben in dem kleinen Gebiet kaum eindämmen können.

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