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Europa in der Austeritätsfalle

Von Thomas Seifert

Analysen

Das Wort "Austerität" geht auf die alten Griechen zurück. Im heutigen Griechenland ist es zum Reizwort geworden.


Wien. Austerität ist Griechisch. Das Wort geht auf das altgriechische "austeros" zurück, was ursprünglich so viel bedeutete wie "Trockenheit auf der Zunge", bald aber als Umschreibung für schwierige Umstände diente. Es war auch der griechische Philosoph Aristoteles (384-322 v. Chr.), der als einer der ersten Verkünder der Botschaft der Austerität gelten kann. Die Griechen von heute wissen nach Jahren der Sparpolitik ganz genau.

Im jetzigen Streit zwischen dem griechischen Premier Alexis Tsipras und den EU-Partnern geht es im Wesentlichen um einen Streit um die Fortsetzung der Austeritätspolitik im Land. Tsipras will eine Abkehr vom harten Sparkurs, die europäischen Gläubiger pochen aber darauf, dass Athen die Ausgaben weiter senkt und die Einnahmen erhöht, um die angehäuften Schulden eines Tages zurückzahlen zu können.

Europa muss seine Schulden in den Griff bekommen, lautet das Credo der Europäischen Machteliten. Doch die Krisenrezepte wirken nicht: Die Staatsschulden in Europa sind kaum gesunken und das Wachstum ist weiterhin schwach. "Warum wird die Sparpolitik trotzdem mit breiter Unterstützung von Politikern, Ökonomen und großen Teilen der Öffentlichkeit fortgesetzt?", fragt der Wirtschaftshistoriker der Universität St. Gallen, Florian Schui, in seinem Buch "Austerität. Politik der Sparsamkeit - die kurze Geschichte eines großen Fehlers".

Schui argumentiert, dass der deutsche Sparkurs und schwache Lohnentwicklung im Land erheblich zur Eurokrise beigetragen haben, weil dadurch Importe aus EU-Staaten geschwächt wurden. Viele deutsche Unternehmen seien nur dadurch gut durch die Krise gekommen, weil sie die sinkende heimische Nachfrage durch vermehrten Absatz im Ausland ausgleichen konnten. Der deutsche Markt habe aber wegen der Sparpolitik keine vergleichbare Rolle für Unternehmen im europäischen Ausland gespielt, die schwächelnden Importe haben zur Erhöhung der Handelsbilanzüberschüsse Deutschlands auf heute 200 Milliarden Euro beigetragen. Dieses Kapital musste irgendwo hin und wurde unter anderem in die heutigen Krisenstaaten exportiert - bis es zum Crash kam. Dass durch die Kreditschwemme (nicht nur) Griechenlands Regierung weit über die Verhältnisse leben konnten, ist die andere Seite dieser Medaille.

Die beiden linken Ökonomen Heiner Flassbeck und Costas Lapavitsas schlagen in ihrem Buch "Nur Deutschland kann den Euro retten" in dieselbe Kerbe: Die von Deutschland verordnete Sparpolitik habe den Geist des "vereinten Europa" zerstört und in mehreren Ländern zu heftigen sozialen und politischen Spannungen geführt. "Heute ist die Union wahrscheinlich schwächer als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt ihrer Geschichte", urteilen die beiden.

Zudem hat das Ansehen der EU-Institutionen stark gelitten. Die EU-Kommission ist in den Südländern als "Zuchtmeister Europas" verschrien, Begriffe wie Fiskaldisziplin, Konsolidierung, Programme, Reformen, Strukturbereinigung sind dort zu gefürchteten Vokabeln geworden.

Und vor allem anglophone Beobachter sehen mit Entsetzen, wie Europa ihrer Meinung nach die Fehler der Vergangenheit wiederholt.

Die gescheiterte Idee der Austeritätspolitik

Der schottische Professor für politische Ökonomie, Mark Blyth, argumentiert in seinem Buch "Wie Europa sich kaputtspart: Die gescheiterte Idee der Austeritätspolitik", dass der drakonische Sparkurs des letzten Kanzlers der Weimarer Republik, Heinrich Brüning, zum Aufstieg von Adolf Hitlers beigetragen hatte. Bei den Wahlen im Juli 1932 versprachen die Nazis ein "wirtschaftliches Sofortprogramm" und ein Ende des harten Sparkurses. Der NSDAP-Slogan "Arbeitslosigkeit ist die Ursache für Armut, Arbeit schafft Wohlstand" sowie "Kapital schafft keine Arbeitsplätze, Arbeitsplätze schaffen Kapital" verfing, immerhin lag die Arbeitslosigkeit bei 30 Prozent. Die Nationalsozialisten, die 1930 18,3 Prozent der Stimmen erhalten hatten, kamen 1932 auf 37,3 Prozent. "Die wiederholten Austeritätspolitik-Runden trugen (...) viel mehr dazu bei, Hitler an die Macht zu verhelfen, als die Inflation zehn Jahre davor", schreibt Blyth.

Den US-Ökonomen an der Columbia-Universität in New York, Jeffrey Sachs, erinnern die Zustände im heutigen Griechenland an jene in Deutschland 1933: "Die Europäische Union muss freilich keinen Aufstieg eines griechischen Hitler befürchten (...) es gibt jedoch etwas, was die EU fürchten sollte: Die Armut innerhalb ihrer Grenzen und die verheerenden Konsequenzen für Politik und Gesellschaft auf dem europäischen Kontinent", schrieb Sachs erst unlängst in einem Kommentar.

Die Sparpolitik in den 1930er Jahren war Deutschland aufgezwungen worden. Einerseits von jenen Gläubigern, bei denen sich Deutschland durch Kriegsanstrengungen des Ersten Weltkriegs oder verschuldet hatte. Andererseits musste Deutschland hohe Reparationszahlungen an die Siegermächte leisten. Der britische Ökonom John Maynard Keynes nahm als Ökonom auf britischer Seite an den Friedensverhandlungen mit Deutschland teil, zog sich aber enttäuscht zurück. Er fürchtete, dass man die Wirtschaft Deutschlands zerstören würde - mit schrecklichen Folgen. Er schrieb sich seinen Frust in seinem Buch "Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages" von der Seele: "Werden die unzufriedenen Völker Europas bereit sein, eine Generation lang ihr Leben so zu ordnen, dass ein spürbarer Teil ihres täglichen Einkommens für die Begleichung ausländischer Forderungen zur Verfügung steht?" Heute kennen wir die Antwort - Deutschland überzog den Kontinent ab 1939 erneut mit Krieg.

Für Joseph E. Stiglitz, Kollege von Sachs an der Columbia-Universität, geht es im Machtspiel zwischen EU und Griechenland vor allem darum, "dem Land das Unakzeptable aufzuzwingen - eine Politik, deren Scheitern im Grunde schon feststeht". Die Troika-Ziele seien zu streng gewesen, es habe kaum irgendwelche Wachstumsimpulse gegeben. Das Ergebnis: Das Bruttoinlandsprodukt Griechenlands ist um 25 Prozent gesunken, die Jugendarbeitslosigkeit übersteigt die 60-Prozent-Marke. Im englischen Sprachraum gibt es das "law of holes", das "Lochgesetz": "If you find yourself in a hole, stop digging." - "Wenn du in einem Loch festsitzt, hör auf, weiterzugraben."