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Ein Teil von uns

Von Walter Hämmerle

Analysen

Woher nur dieser Hass? Das ist die falsche Frage. Es geht darum, wie wir den Hass zähmen und unterdrücken können.


Warum nur plötzlich dieser Hass? Das ist eine der drängendsten Fragen unseres Zusammenlebens, nicht erst seit dem Mord an Jo Cox, der 41-jährigen Labour-Abgeordneten und EU-Anhängerin mitten im "Brexit"-verrückten Großbritannien. 9/11, Madrid, London, Utoya und Oslo, Brüssel, Boston, Charlie Hebdo, Bataclan, erst Orlando und jetzt das nordenglische Birstall - es ist längst unmöglich geworden, eine auch nur annähernd vollständige Liste im Gedächtnis zu behalten.

Für den Terrorismus aller Richtungen, wobei unsere Zeit die Islamisten und Rechtsradikalen prägen, ist der Hass fixer Bestandteil ihrer politischen Strategie. Er treibt sie zu ihren mörderischen Taten an, die wiederum den Hass der Opfer schüren. Die Strategie ist pervers und zugleich furchteinflößend rational. Versuche, diese Logik zu durchkreuzen, etwa indem - wie es der Mann eines Opfers des Massakers im Pariser Musikklub Bataclan getan hat - man sich dem Hass auf die Täter bewusst verweigert, scheinen aussichtslos. Zu wenige Menschen sind zu einer solchen Übermenschlichkeit in der Lage.

Die Hasser, die auf Gegenhass aus sind, wissen, dass sie sich auf ihre Menschenkenntnis verlassen können. Max Webers Satz von der Politik als dem Bohren harter Bretter ist zum Allgemeingut geworden. Sehr viel weniger bekannt ist Webers Diktum, dass es sich bei Politik um einen Kampf mit und gegen die Dämonen handelt, die in jedem Menschen auf eine Chance zum Ausbruch lauern. Dieses Wissen war unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als Weber diesen Gedanken verfasste, Allgemeingut.

Die historisch einzigartige lange Ära von Frieden und Wohlstand nach 1945 hat uns Europäer geschichtsvergessen gemacht. Und heute, völlig überrascht über die plötzliche Welle an Hass, suchen wir nach neuen Schuldigen - und glauben, diese in den neuen sozialen Medien zu finden. Daran stimmt lediglich, dass unsere niedrigsten Gefühle mit Twitter, Facebook und in den Online-Foren der etablierten Medien nunmehr über höchst effiziente und maximal breitenwirksame Vertriebskanäle verfügen. Das trifft sich natürlich ausgezeichnet, wo doch jetzt jeder praktischerweise über eine eigene Meinung verfügt und zudem gelernt hat, diese lautstark und gekonnt allen anderen mitzuteilen. Und wie das geht, zeigen ja die Eliten in Politik, Medien, Wirtschaft und Kultur - mit Ausreißern nach unten wie oben - tagtäglich vor.

Aber das sind alles nur Äußerlichkeiten. Der Hass war niemals weg, er hat sich nur vorübergehend geschickt versteckt. Nur damit ist es jetzt vorbei. In einem Gespräch mit dieser Zeitung meinte der Philosoph Rudolf Burger im Jänner diesen Jahres: "Es geht um die grundsätzliche Aufgabe staatlicher Ordnung. Wir sind nicht gut und sind nicht böse. Alles, was wir moralisch denken können, ist möglich. Menschen sind gefährlich. Alle. Sie können sich aufopfernd um Flüchtlinge kümmern wie zu Bestien werden. Und es ist von niemandem ex ante abschätzbar, wie er sich in einer bestimmten Lage verhalten wird."

Es ist Zeit, dass wir uns dessen als Gesellschaft wieder bewusst werden. Es braucht nur einen Funken, eine Situation, einen Moment der Angst, ein trügerisches Gefühl der Übermenschlichkeit, um das Tier im Menschen zu entfesseln.

Dabei fußen die Grundlagen unserer modernen Staatlichkeit auf der Einsicht, dass nur eine starke Ordnung die dem Menschen innewohnende Gewalttätigkeit zu zähmen imstande ist. Der britische Staatsdenker und skeptische Philosoph Thomas Hobbes schrieb seine Rechtfertigung des aufgeklärten Absolutismus unter dem Titel "Leviathan" (erschienen 1651) unter dem Eindruck des englischen Bürgerkriegs in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Dessen Grundgedanke lautet: Im Naturzustand droht den Menschen ein Krieg aller gegen alle, der sich nur durch die Angst vor Strafe durch eine stärkere Gewalt eindämmen beziehungsweise verhindern lässt. Hobbes bahnbrechende Idee: Per Vertrag sollen die Einzelnen ihre Rechte auf eine zentrale Gewalt, den Staat, übertragen, der im Gegenzug für Sicherheit zu sorgen hat. Zumindest gedanklich war damit ein entscheidender Schritt vom Untertan zum Bürger geschafft.

In den Jahrhunderten seither wurde Fortschritt verlässlich daran gemessen, dass die Macht des Staates zurückgeschnitten, die Freiheit des Einzelnen und seiner Gruppen aber gestärkt und ausgebaut wurde. Mittlerweile scheint dieser Trend ausgereizt: Ein Zerfall der staatlichen Institutionen, seiner Autorität und seines Gewaltmonopols, diese ewigen Sorgen der Konservativen, treibt heute auch Linke und Liberale um. Natürlich mangelt es nicht an guten und gut gemeinten Vorschlägen gegen den Hass - jenen virtuellen im Netz mit seinen zügellosen Beschimpfungen und faktenfreien Behauptungen, und jenen handfesten, dessen Täter im Blut ihrer wehrlosen Opfer waten. Netiquette, also Regeln für einen respektvollen Umgang im Netz, sind eine gute Sache, so wie sich auch Hausordnungen für private und öffentliche Räume bewähren. Mehr als Kosmetik können sie trotzdem nicht sein. Auch der Appell, dem Hass und den Ressentiments offen entgegenzutreten - im Netz, auf der Straße und am Stammtisch -, schadet nicht. Eine Gesellschaft, die ihre öffentlichen Räume ihren Gegnern freiwillig überlässt, hat ihre besten Zeiten hinter sich.

Und dann gibt es auch noch den eigentlichen öffentlichen Diskurs, die argumentative Auseinandersetzung der Standpunkte, die inszenierten Schlammschlachten, die mittlerweile als häufigster Ersatz für die Diskussionskultur alten Stils eingesetzt werden. Überhaupt die Politiker, die doch eigentlich Vorbild sein sollten. Das ist natürlich ein verallgemeinerndes Pauschalurteil, denn tatsächlich gibt es Unterschiede, zwischen den Personen, vor allem aber zwischen den Parteien.

Die FPÖ und ähnlich gestrickte Parteien und Politiker in Europa wie jenseits des Atlantiks haben es zu einer zweifelhaften Meisterschaft gebracht, eine neue Tonalität in die Politik zu bringen: emotional, aggressiv, polemisch. So suchen sie ihr Heil darin, Politik vom Kopf weg wieder hinunter in den Bauch umzusiedeln. Ihre Gegner sind - vor Hilflosigkeit? - auch nicht zimperlich. Weder ist Strache ein Nazi noch Putin oder Trump Faschisten, wie zu betonen sich kürzlich der Historiker Ian Buruma wieder veranlasst sah. Die Gegner der Radikalen brauchen bessere Argumente.

Aber selbst wenn, was ohnehin unwahrscheinlich ist, die Politik wieder zu einem gemäßigten Stil findet, wird der Hass nicht verschwinden. Er steckt in uns. Und nur die Einhaltung jenes Vertrags, mit dem wir Bürger unsere Naturrechte an eine zentrale Macht abgegeben haben, um uns selbst und alle anderen zu schützen, wird ihm wirksame Grenzen setzen.