Zum Hauptinhalt springen

Lichtungswechsel

Von Judith Belfkih

Analysen
Das politische Lagerdenken erweist sich aktuell als doppelte Einbahnstraße - inklusive Richtungswechsel.

Die politischen Begriffe Rechts und Links sind in aller Munde. Die Pole haben einen Rollentausch vollzogen, der sie ad absurdum führt.


manche meinen

lechts und rinks

kann man nicht velwechsern

werch ein illtum

Ernst Jandl

Was mit den politischen Lagern von Rechts und Links gemeint ist, galt bis vor kurzem als nicht erklärungsbedürftig. Links, das war nicht erst seit 1968 Aufbegehren gegen das Establishment, Widerstand gegen die herrschende Klasse. Es stand für den Kampf gegen soziale Missstände, für Solidarität, Toleranz und Chancengleichheit. Rechts dagegen meinte im Gegenzug dazu das Konservative, das Bewahrende, das wohlige Ruhebett der Tradition, mitunter auch elitäres Standesdenken. Es meinte das Lager, das von Veränderung nichts wissen wollte, sich gegen das Neue und den Wandel stellte, das sich gar nach einer vermeintlich guten alten Zeit zurückzusehen schien. Monarchist gegen Revolutionär stand Ende des 18. Jahrhunderts wohl als erste kurze Formel am Beginn dieser prägenden Unterscheidung.

Ein Blick in die Gegenwart führt da einen absurden Rollentausch vor. Sogar die Linke selbst wirft der eigenen Fraktion vor, sich in Toleranz und Offenheit gegenüber jedem und allem selbst lahmzulegen und vor lauter Verständnis für jede erdenkliche Position gleichzeitig jegliches Profil verloren zu haben. Da sie erkannt hat, dass Gleichstellung - zwischen den Geschlechtern oder auch Kulturen - meist auf Kosten von irgendjemandem geht, wird es ihr immer schwieriger, sich für eine Gruppe starkzumachen - das hieße ja, sich gleichzeitig gegen eine andere zu stellen. Patt, wenn nicht gar schachmatt.

Die Rechte hingegen macht gegenwärtig mobil, übt sich in lauten, widerständischen Gesten. Gegen das ("linkslinke") Establishment, gegen die Flüchtlingspolitik, gegen die (ebenfalls "linkslinke") "Lügenpresse", für den kleinen Mann. Rechts ist zum Aufbegehren der Gegenwart geworden, selbst wenn dieses Aufbegehren ein inhaltlich rückwärtsgewandtes ist. Das Frauenbild des Donald Trump spricht hier eine deutliche Sprache. Links wirkt dagegen wie die Stimme des kalmierenden Bewahrens. Ein Bewahren, das die sozialen und gesellschaftlichen Errungenschaften nicht hinweggespült wissen will, um die mehr als eine Generation gekämpft hat von den wenigen Früchten der Emanzipationsbewegung hin zur Freiheit von Gedanken, Medien und Künsten. Die politischen Positionen der Fraktionen sind dabei die gleichen geblieben, die Methoden und auch die Zielrichtung haben sich jedoch geändert.

Das Aufbegehren hat das Lager gewechselt

Die Zufriedenen gegen die Unzufriedenen, diejenigen, die den Ton angeben, gegen diejenigen, die sich als benachteiligte Underdogs betrachten - dieses Prinzip ist gleich geblieben. Wer das Lager gewechselt hat, sind nicht die politischen Akteure oder Inhalte. Das Aufbegehren hat das Lager gewechselt. Die Unzufriedenheit ist übergelaufen. Das kontinuierliche Aufweichen beziehungsweise komplette Wegbrechen der politischen Mitte lässt die daraus entstandenen und weiter entstehenden Polarisierungen aktuell noch schärfer wahrnehmen.

Die Rechte bedient sich einst linker Kampfbegriffe

Eine Erklärung für diese Umpolung liegt im gesellschaftlichen Wandel der vergangenen Jahre. Denn die Diskurshegemonie, also die Summe all jener Personen und Meinungen, die etwa in einem Staat den Ton angeben, liegt nicht mehr in einem streng konservativen, sondern in einem liberal bürgerlichen Feld. Galt Establishment einmal als linker Kampfbegriff gegen die bürgerliche Gesellschaft, ebenso wie Störaktionen im öffentlichen Raum, so bedienen sich heute die neuen Rechten und Populisten dieser Methoden. Und die neuen, einst avantgardistischen, revolutionären Eliten reagieren genau so überrascht und empört wie einst die alten.

Auch die Spiral- oder Pendelbewegungen, in denen Geschichte sich stets beobachten lässt, erklären die aktuelle Drehung. Demokratie lebt von Veränderung und speist sich in ihrer Weiterentwicklung nicht aus Zufriedenheit. Diese Unzufriedenheit stellt sich heute nur auf eine andere Seite.

Selbst in der Kunst lässt sich diese Veränderung beobachten. Theaterinszenierungen zitieren seit einiger Zeit seltener schwingende rote Fahnen, wenn es um Revolution geht. In den jüngsten Werken wehen schon eher identitäre Symbole über Wiener Bühnen. Der politische Inhalt freilich ist ein anderer. Auch die Funktion des Zitates unterscheidet sich - statt als Zeichen der Identifikation wehen die Fahnen meist als Mahnung. Und dennoch: Das Symbol hat das Lager gewechselt.

Rechts ist das neue Links und umgekehrt. So einfach ist die Sache trotz der veränderten Methoden natürlich nicht. Und auch die Schlussfolgerung, dass das Linkeste, was man derzeit tun kann, also ist, Rechts zu wählen, damit der Spuk schneller vorbei ist, das Pendel der Geschichte schneller zur Gegenbewegung ansetzt, schießt über das Ziel hinaus. Denn das würde konsequenterweise bedeuten, auf eine Zeit warten zu müssen, in der rechte Themen wieder salonfähig sind, um sie erneut bekämpfen zu können. Eine Welt, in der die vermeintliche Bedrohung durch Flüchtlinge, die Pauschalverurteilung von Muslimen und politisch geschürte soziale Ängste zur gesellschaftlich anerkannten Realität werden, ist schauderbar.

Kopfschüttelnder Rückzug in die Filterblase

Die Perspektive, die sich aus dieser Analyse ergibt, ist keine rosige. Worte wie Spaltung und Kluft stehen auch angesichts der neuerlichen Hofburgstichwahl im Raum. Auf beiden Seiten dominiert verständnisloses Kopfschütteln für den jeweils anderen. Man zieht sich in die eigene Filterblase zurück - ob virtuell in Sozialen Medien oder ganz real am Stammtisch. Kämpferische (verbale) Ausflüge ins gegnerische Lager inklusive. Dort wird dann aus befremdlich schnell fremd, aus Unverständnis immer öfter Hass. Das sinkende Niveau und der parallel dazu steigende Aggressionspegel in der digitalen Kommunikation befeuern die Situation weiter. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Differenzierungen sind Vergangenheit. Ein Nebeneffekt der neuen Polarisierung ist, dass die dazu benutzten Pole immer mehr aufweichen, Definitionen von Rechts und Links immer schwammiger und diffuser werden, da sie immer mehr Positionen in sich aufzunehmen haben. Jüngste Umfragen zeigen, dass beschreibende Begriffe davon, was Links und Rechts heute bedeuten, sich teilweise sogar überschneiden - sozial oder liberal etwa finden sich in beiden Lagern.

Die Frage nach dem, was nach dieser verschwimmenden Polarisierung kommen mag, lässt da mehr Raum für vorsichtigen Optimismus. Denn es besteht die Hoffnung, dass die ausgehöhlten aktuellen Positionen sich in dieser Extremsituation derart ausreizen, dass sie in sich selbst zusammenfallen. Als ein historisches, letztes Aufbäumen des Lagerdenkens, das nach dieser absurden, inhaltsleeren finalen Ausreizung nicht mehr notwendig ist. Und dass dann der Weg frei ist für eine völlig neue Werte- und Sinngemeinschaft. Eine neu gedachte Form der Demokratie, die politische Lager, wie wir sie heute kennen, hinter sich lässt. Dass es solch eine Entwicklung geben wird, das zeigt sich in vielen kleinen Bewegungen und nicht zuletzt im Lauf der Geschichte. Wann das passieren wird, weiß selbst die Geschichte noch nicht. Ebenso wenig, wie viel verbrannte Erde es auf dem Weg dahin geben wird.