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Bummelzug statt Balkanexpress

Von WZ-Korrespondent Wolfgang Tucek

Europaarchiv

Erweiterungskommissar rügt die Türkei - Gespräche ruhen.


Brüssel. Der Schwung ist aus der EU-Erweiterung schon seit längerem draußen, die Zustimmung zur weiteren Ausbreitung der Union in der Bevölkerung sinkt beständig. Gerade Kroatien als 28. Mitgliedsland kann sich laut jüngster Umfrage noch eine Mehrheit der Österreicher vorstellen. Doch jetzt öffnet die EU-Kommission die Tür für zwei weitere Balkanländer: Serbien soll zwölf Jahre nach Ende des Kosovo-Kriegs offizielles EU-Kandidatenland; mit Montenegro sollen so schnell wie möglich EU-Beitrittsverhandlungen begonnen werden. Das empfahl Erweiterungskommissar Stefan Füle bei der Präsentation seiner Jahresberichte.

Mit Island gehen die Beitrittsverhandlungen gut voran, weniger Fortschritte gab es in Albanien, Mazedonien und im Kosovo. Schlusslichter in der Bewertung sind heuer Bosnien-Herzegowina und die Türkei. Erstes sei seit geraumer Zeit von einem "institutionellen Patt" gelähmt - die bosniakisch-kroatische Föderation und die Republika Srpska blockieren einander ständig. Die Beitrittsgespräche mit Ankara seien seit einem Jahr nicht mehr vorangekommen, sagte Füle - und rügte die Türken für ihre Muskelspiele gegenüber EU-Mitglied Zypern.

Ganz allgemein ortete Füle schleppende Reformen der öffentlichen Verwaltung und mangelnde Rechtsstaatlichkeit als Kernprobleme in allen aktuellen und künftigen Kandidatenländern außer Island. Zudem habe es gegenüber dem Vorjahr durch die Bank Rückschläge für die Meinungs- und Pressefreiheit gegeben. Und auch in der Beurteilung Serbiens ist nicht alles eitel Wonne. Zwar haben die Serben inzwischen alle vom UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag gesuchten Akteure der Balkankriege ausgeliefert. Weil die Beziehungen zur ehemaligen Provinz Kosovo zuletzt aber wieder deutlich schlechter geworden sind, empfiehlt die Kommission noch nicht die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Belgrad. Das hatte sich der serbische Präsident Boris Tadic nach den spektakulären Festnahmen eigentlich erwartet. Denn seit dem Sommer sitzen auch Ex-General Ratko Mladic und der ehemalige kroatische Serbenführer Goran Hadzic im niederländischen Scheveningen im Gefängnis.

Mazedonien wartet auf Beginn von Gesprächen

Erst muss die serbische Regierung aber die zuletzt geplatzten Verhandlungen über die künftige Zusammenarbeit mit dem Kosovo wieder aufnehmen und aktiv mit der EU-Rechtsstaatsmission Eulex zusammenarbeiten, bevor es Beitrittsgespräche mit der EU geben kann. Deren Auftakt werde die Kommission vorschlagen, "sobald es weitere Fortschritte bei der Normalisierung der Beziehungen" zwischen den beiden Balkanländern gebe, sagte Füle. Bereits beim EU-Gipfel am 9. Dezember könne es eine Bestätigung des serbischen Kandidatenstatus und der Verhandlungen mit Montenegro geben. Die würden erstmals nach einem neuen Modus durchgeführt: Gleich zu Beginn sollten die kritischsten Kapitel "Justiz und Grundrechte" sowie "Freiheit, Sicherheit und Recht" angegangen und erst ganz zum Schluss geschlossen werden, erklärte der tschechische EU-Kommissar. Die ganze Zeit würden EU-Experten den Beamten und Politikern in den Beitrittsländern bei ihren Reformen zur Hand gehen. Für Montenegro handle es sich um "den Beginn einer anspruchsvollen Reise", betonte Füle.

Schon seit 2005 EU-Kandidatenland ist Mazedonien, dass auch wegen eines bizarren Streits um seinen Namen mit dem EU-Nachbarn Griechenland noch immer keine Aussicht auf Beitrittsverhandlungen hat. Offiziell heißt das Land nämlich "Frühere Jugoslawische Republik Mazedonien". Denn nur "Mazedonien" betrachtet Athen als eine "slawische Aneignung griechischer Kultur und Geschichte" und sieht darin Gebietsansprüche auf die griechische Nordprovinz Makedonien.

Und dass auch Beitrittsverhandlungen noch nicht unbedingt zum Ziel führen, illustriert die Türkei eindrucksvoll. Wegen des Stillstands der Gespräche seit gut einem Jahr gebe es "Frustration auf beiden Seiten", sagte Füle. "Außerdem sind wir besorgt über die Spannungen zwischen Zypern und der Türkei." Hier müsse rasch eine umfassende und friedliche Lösung gefunden werden. Zuletzt hatten die Türken sogar Kriegsschiffe losgeschickt, um die Zyprioten am Zugriff auf etwaige Ölreserven am "türkischen Festlandsockel" zu hindern. Zudem hat Ankara bereits gedroht, die Beziehungen zur EU im zweiten Halbjahr 2012 ganz auf Eis zu legen - dann führt Zypern für sechs Monate den EU-Vorsitz.

Auch wenn Füle seinem Projekt neuen Schwung geben will, sind nach dem Beitritt Kroatiens am 1. Juli 2013 für dieses Jahrzehnt keine weiteren Aufnahmen zu erwarten - falls das isländische EU-Referendum nicht überraschend pro Beitritt ausgeht.