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"Morden lief ohne Gesamtplan an"

Von Gerhard Lechner

Europaarchiv

Initiativen lokaler Dienststellen spielten oft verhängnisvolle Rolle.


"Wiener Zeitung": Herr Gerlach, das Protokoll der Wannsee-Konferenz entging nur durch einen glücklichen Zufall seiner Vernichtung. Ist die Konferenz heute nur deshalb so bekannt, weil man über ein Protokoll verfügt, oder nimmt das Treffen, das am 20. Jänner 1942 am Wannsee in Berlin stattfand, tatsächlich eine Schlüsselstellung bei der Entscheidung ein, die europäischen Juden zu ermorden?Christian Gerlach: Im Prinzip sind sich - trotz der unterschiedlichen Meinungen, die es auf dem Gebiet gibt - die Forscher heute einig, dass der Entschluss zum Holocaust ein langer Prozess war, der etwa von Anfang 1941 bis zur Mitte des Jahres 1942 dauerte. Die Konferenz fiel in diese Zeit und ist Teil dieses Prozesses.

Welche Bedeutung wird ihr dabei zugemessen?

Letztlich keine entscheidende. Es gibt im Grunde zwei Hauptströmungen in der Forschung: Die einen behaupten, die Entscheidung zum Holocaust sei im Herbst 1941 gefallen, im Zuge der Massenerschießungen von Juden im "Ostraum" und der Pläne für erste Vernichtungslager, die anderen, das sei erst im Frühjahr 1942 der Fall gewesen. In beiden Lesarten spielt die Wannseekonferenz keine dominante Rolle.

Sie selbst haben vor 15 Jahren mit der These für Aufsehen gesorgt, dass Hitler die "Grundsatzentscheidung" zur Vernichtung der europäischen Juden am 11. Dezember 1941 getroffen habe.

Meine Interpretation stützt sich auf eine Reihe von Besprechungen, die zu der Zeit in Berlin stattfanden, und Notizen über deren Inhalte: zwischen Hitler und SS-Chef Heinrich Himmler, zwischen Himmler und Viktor Brack - der das Morden an den Behinderten organisierte -, dazu Besprechungen mit Ostminister Rosenberg oder mit Hans Frank, dem Leiter des Generalgouvernements in Polen. Frank hat darüber auch gesprochen. Wie auch Hitler zu der Zeit bei einem Treffen von Reichs- und Gauleitern, in der er auf seine berühmte Rede vom Jänner 1939 verwies - als er von der Vernichtung des Judentums in Europa sprach für den Fall, dass es "die Völker noch einmal in einen Weltkrieg stürzen" werde. Hitler sagte vor den Gau-Leitern: Dies seien keine leeren Worte gewesen. Nun (mit Kriegseintritt der USA, Anm.) sei der Weltkrieg da, die Vernichtung des Judentums müsse die notwendige Folge sein. Auch der rumänische Verbündete, Diktator Ion Antonescu, erwähnte zu der Zeit, dass in Berlin gerade Besprechungen stattfänden, die klären sollten, was mit den Juden zu geschehen habe.

Beinhaltete diese Grundsatzentscheidung bereits das, was danach ins Werk gesetzt wurde?

Eben nicht. Ich würde es eher als eine Art Politikwechsel betrachten. Es wurden weder sofort weitere Vernichtungslager gebaut noch die Massenerschießungen gleich ausgeweitet. Vieles blieb noch vage und offen, und der Chef der Sicherheitspolizei und des SD Reinhard Heydrich versuchte auf der Konferenz, die ursprünglich übrigens weitgehend nur über das Schicksal der Juden im Deutschen Reich beraten sollte und wegen der genannten Grundsatzentscheidung verschoben und ausgeweitet worden war, den bereits angelaufenen Vernichtungsprozess in seiner Hand zu zentralisieren. Das ist ihm nicht gelungen, schon auf der Wannsee-Konferenz gab es Widerstand.

Welcher Art?

Die Vertreter der deutschen Verwaltungen in Osteuropa opponierten gegen Heydrichs Plan, Europa "von Westen nach Osten durchzukämmen". Sie drängten auf eine raschere Vernichtung auch in ihrem Gebiet. Man darf sich den Entscheidungsprozess, der zur Judenvernichtung führte, also nicht als eine Art geschlossenen, von einer SS-Elite ersonnenen Plan vorstellen, der dann minutiös durchgeführt wurde, sondern eben als stark dezentralisierten Entscheidungsprozess, in dem immer wieder das Drängen der unteren Ebenen - auch von Zivilverwaltungen oder der Wehrmacht - eine beschleunigende Rolle spielte. Dabei glaubten die Dienststellen vor Ort vielfach, mit der Vernichtung von Juden ihre Probleme lösen zu können: etwa deutschen Soldaten und der nichtjüdischen einheimischen Bevölkerung bessere Essensrationen zu bieten.

Zur Person



Christian Gerlach

ist Professor für Zeitgeschichte in globaler Perspektive an der Universität Bern. Der 1963 geborene Deutsche, der über die NS-Besatzungspolitik in Weißrussland promovierte, sorgt oft mit empirisch gut fundierten Arbeiten für Aufsehen. Zuletzt: "Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im
20. Jahrhundert."