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Gestritten wurde in Europa immer

Von Reinhard Göweil

© Peter M. Hoffmann

Den Römischen Verträgen 1957 ging eine tiefe Krise voraus. Vor 60 Jahren war sozialpolitische Harmonisierung ein Ziel.


Rom/Wien. Mit Verklärung wird des 25. März 1957 gedacht, als sechs Länder die Römischen Verträge unterzeichneten und damit die heutige Europäische Union gründeten. Nun waren diese sechs Männer - in erster Linie sind der damalige belgische Außenminister Paul-Henri Spaak und der deutsche Staatssekretär Walter Hallstein zu nennen - tatsächlich beseelt von einer Art Europäischen Föderation. Am Pathos rund um die Römischen Verträge muss dennoch gekratzt werden, denn gestritten wurde schon damals, und das nicht zu knapp.

Denn den Römischen Verträgen ging eine tiefe Krise voraus, ausgelöst von den Franzosen: Diese hatten 1954 die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) abgelehnt, in deren Rahmen die Wiederbewaffnung Deutschlands stattfinden sollte. Denn im selben Jahr hatte die Sowjetunion Frankreich geholfen, einigermaßen glimpflich aus dem desaströsen Indochina-Krieg auszusteigen. Viele Historiker bezeichnen dies als "politisches Tauschgeschäft". Europa und die Nato sähen heute anders aus, wäre die bereits akkordierte EVG umgesetzt worden.

1955 beendete die Konferenz von Messina den tiefen Streit zwischen den europäischen Ländern. Sie begann am 1. Juni in frostiger Atmosphäre und endete am 3. Juni mit einer gemeinsamen Erklärung, die den späteren Weg wies: Eine Wirtschaftsgemeinschaft solle den Kontinent einen. Großbritannien war dazu eingeladen, nahm aber nicht teil. Premier Winston Churchill, ein Verfechter der EVG, war im April 1955 zurückgetreten.

Aussöhnung Deutschlandsund Frankreichs

So blieb es bei den sechs Ländern Italien, Belgien, Luxemburg, Niederlande, vor allem aber Frankreich und Deutschland. Die Aussöhnung dieser zwei Nationen stand stets im Mittelpunkt der europäischen Integration. "Gläubigen und mutigen Staatsmännern ging es zunächst darum, die beiden großen Staaten zu versöhnen", sagte der belgische Außenminister Paul-Henri Spaak 1957 in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Karlspreises in Aachen. "Über alle Grausamkeiten und Leidenschaften hinweg (. . .) haben wir nach und nach das Bewusstsein entwickelt, dass dieser europäische Krieg, der Nationen gegen Nationen hetzte, nichts anderes war als die schreckliche Form eines Bürgerkriegs."

Aber auch die sowjetische Invasion in Ungarn 1956 und der sich entwickelnde Kalte Krieg brachten wieder Schwung in die europäische Einigung. In der sogenannte Spaak-Kommission wurde die seit 1951 bestehende Montanunion weitergedacht. Spaak dazu: "Ich bin überzeugt, dass vor allem die wirtschaftliche und soziale Zukunft den großen Gemeinschaften gehören wird." Schon damals wurde festgestellt, dass an einem gemeinsamen Markt kein Weg vorbei führe. Kein europäisches Land - so die damaligen Experten - könne es einzeln mit US-Autofabriken aufnehmen, kein Land habe die Kraft, große Transportflugzeuge zu bauen. Nun, Airbus ist Realität geworden, und Europas Autoindustrie gehört 60 Jahre später zu den besten weltweit.

Doch schon damals wurde klargestellt, dass es nicht nur um die Stahl- und Kohleindustrie gehen könne. Es gehe auch um Ideen und Lernprozesse, die Europa gemeinsam entwickeln müsse. Die Zollunion und der Abbau nationaler Regulierungen sowie unfairer Wettbewerbsbedingungen waren dabei die ersten Schritte.

Überwindung des Nationalstaates

Die Verfasser der Römischen Verträge wollten aber damit nicht stehen bleiben, ihr Ziel blieb die politische Union. Spaaks kongenialer Partner in diesem Prozess war Hallstein, Staatssekretär im deutschen Bundeskanzleramt zur Zeit Konrad Adenauers. Hallsteins Rolle zur Einigung Europas wurde gekrönt, als er 1958 der erste Präsident der EWG-Kommission wurde (er blieb es bis 1967). Auch er wusste von kleinlichen Debatten und Rückschlägen zu berichten, verlor das große Ziel aber nie aus den Augen - und das hieß Europäische Föderation, also die Überwindung des Nationalstaates.

"Der verklärende Rückblick übersieht allzu leicht, dass die Integrationspolitik sich durch viele Hindernisse hindurch kämpfen musste", schrieb Hallstein 1969. Damals bezeichnete er die Europäische Gemeinschaft als "unvollendeten Bundesstaat".

Das ist sie bis heute, denn eines ging auf dem Weg verloren: Männer wie Spaak und Hallstein hatten nicht nur einen großen gemeinsamen Markt im Auge, sondern sahen sehr klar dessen sozialpolitische Dimension. Die Harmonisierung der sozialen Systeme und des Lohnniveaus gehörten für sie dazu, wie im Spaak-Bericht zu lesen ist.

Sie wären wohl stolz gewesen, als 1992 die damaligen Regierungschefs die 1999 umgesetzte Gemeinschaftswährung auf den Weg brachten. Ob sie aber ausschließlich monetäre Kriterien dafür festgesetzt hätten, wie Defizit- und Schuldengrenzen? Da sie damals schon das "Prinzip gleicher Löhne für männliche und weibliche Arbeitskräfte" festschrieben, muss es eher bezweifelt werden.

Europa steht 2017 vor ähnlich radikalen Herausforderungen wie 1957. In den Berichten der Spaak-Kommission, auf deren Basis die Römischen Verträge unterzeichnet wurden, finden sich Konzepte, die auch 2017 noch wert sind, ausprobiert zu werden. Oder, um den 1972 verstorbenen Belgier noch einmal zu Wort kommen zu lassen: "Im Verlauf des Bauens an Europa kann es manchmal eine Pause geben, aber niemals ein freiwilliges Nachlassen."