Vor 120 Jahren wurde der Ökonom und neoliberale Vordenker August Friedrich von Hayek geboren. Das Vermächtnis des Nobelpreisträgers und Vertreters der Österreichischen Schule prägt nach wie vor liberales Denken - stößt aber an Grenzen. Der Ökonom Stephan Schulmeister würdigt Hayek im Interview mit der "Wiener Zeitung" kritisch.

Stephan Schulmeister wurde 1947 geboren und hat als Ökonom von 1972 bis 2012 am Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) in Wien geforscht. Der Wirtschaftswissenschafter ist ein dezidierter Kritiker des Neoliberalismus. In seinem 2018 erschienenen Buch "Der Weg zur Prosperität" beschreibt er die wirtschaftliche Entwicklung seit 1970 unter Einfluss desselben. - © Stanislav Kogiku
Stephan Schulmeister wurde 1947 geboren und hat als Ökonom von 1972 bis 2012 am Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) in Wien geforscht. Der Wirtschaftswissenschafter ist ein dezidierter Kritiker des Neoliberalismus. In seinem 2018 erschienenen Buch "Der Weg zur Prosperität" beschreibt er die wirtschaftliche Entwicklung seit 1970 unter Einfluss desselben. - © Stanislav Kogiku

"Wiener Zeitung": Sie gelten als linker Ökonom, was können Sie dem neoliberalen Hayek abgewinnen?

Stephan Schulmeister: Ich schätze viele Gedanken von Hayek. Das ist einer der Gründe, warum ich mich - was die Ideologie betrifft - nicht als Linken bezeichnen würde. Weil Hayek zu Recht kritisiert, dass linke Philosophen und Gesellschaftswissenschafter zu einer konstruktivistischen - wie er es nannte - Weltverbesserung neigen, gewissermaßen nach großem Plan von Rousseau bis Mao. Dieses Verständnis gesellschaftlicher Prozesse ist mir fremd. Hayek hat in diesem Punkt recht, dass nachhaltige und erfolgreiche gesellschaftliche Veränderungen in kleinen Schritten, also evolutionär passieren. Allerdings geleitet von großen Zielen, Utopien im wörtlichen Sinne, wie soziale Gerechtigkeit oder gar "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit". Aber das sind nicht Orte der unmittelbaren Erreichbarkeit.

Und wo grenzen Sie sich ab?

Bei den Leitsternen, die er vor Augen hat, also der radikal liberalen Gesellschaft mit minimalem Staatseingriff. Meine Position war nie, dass es Aufgabe der Intellektuellen oder der Ökonomen sei, Generalstabspläne zu machen. Sondern in kleinen Schritten auf Basis der Erfahrung Dinge zum Besseren zu verändern. Das ist ein weiterer Punkt, in dem ich mich von Hayek unterscheide.

Inwiefern?

Das schrankenlose Privateigentum hat Hayek als Fundament einer liberalen Gesellschaft bezeichnet, das durch die Rechtsordnung geschützt werden muss. Aber darüber hinaus war er weder an einem wirtschaftspolitisch starken Staat, der etwa Konjunkturpolitik oder Vollbeschäftigungspolitik betreibt, interessiert noch an institutionellen Regelungen, die die Armut eingrenzen, etwa durch den Wohlfahrtsstaat oder ein sozialstaatliches Gesundheitssystem.

Warum ist Wohlfahrt bei Hayek eine Gefahr für Freiheit? Warum schließen sich soziale Gerechtigkeit und Wohlstand aus?

Hayek war ein origineller Denker, gleichzeitig hat er mit seinen Theorien durchgängig die Interessen derer, die vermögend sind, wissenschaftlich legitimiert. Wenn jemand sagt, der Sozialstaat ist deshalb schlecht, weil er die Freiheit des Individuums einschränkt, weil er die Menschen entmündigt oder bevormundet, dann ist das eine Argumentation, die fast gesellschaftsphilosophisch ist. Also, der Mensch ist nur ein Individuum und Gesellschaft ist lediglich eine Konstruktion linker Intellektueller. So wie das Hayek-Anhängerin Margaret Thatcher präzise auf den Punkt gebracht hat mit "there is no such thing as society". Das ist der argumentative Überbau. Die materiellen Interessen, die dadurch legitimiert werden, sind dann, möglichst wenig Steuern zu zahlen - und das entlastet besonders diejenigen, die hohe Einkommen haben.