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Die EU am Scheideweg

Von Rainer Stepan und Karl Schultes

Gastkommentare

Wir haben die Wahl zwischen einem schwachen "Europa der Vaterländer" oder einer erneuerten, innen- wie außenpolitisch handlungsfähigen Europäischen Union - mit allen Konsequenzen.


Zwei wichtige Player sind derzeit auf der europäischen Bühne zugange: Da ist zum einen Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission und davor deutsche Verteidigungsministerin, gebildet und sprachlich polyglott. Ihre Familie hat ein Rittergut in Niedersachsen, sie selbst ist in Brüssel geboren und dort aufgewachsen, hat aber die die überkommene standesgemäße Einstellung ihrer Eltern internalisiert. Sie steht für Attribute wie höflich, pünktlich, verlässlich, offen, europäisch, lutherisch geprägt.

Ganz anders die Vita Viktor Orbáns. Ungarns Premier ist auf dem Dorffußballplatz aufgewachsen, wo jetzt ein durch EU-Gelder bezahltes modernes Fußballstadion steht. Nach nationalen wie internationalen Studien wurde er mit seiner mutigen Rede für Imre Nagy und der Forderung nach Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn auf dem Heldenplatz von Budapest am 16. Juni 1989 in weiten Bevölkerungskreisen populär. Und er ist sich seither der Macht seiner Worte bewusst. Als Obmann der ursprünglich seit 1988 linksliberalen Fidesz-Jugendpartei blieb er nach dem frühen Tod von Premier Jozsef Antall als einziger Bürgerlicher mit Charisma übrig und stellte die "Bürgerbewegung" als Mitte-rechts-Partei neu auf, mit allen personellen Konsequenzen.

In einer Koalition mit einigen kleineren Parteien wurde Orbán 1998 bis 2002 erstmals Ministerpräsident. Es folgte eine achtjährige Regierung der Sozialdemokraten, doch der offen bekannt gewordene Machtmissbrauch durch die linken Sozialdemokraten als Nachfolger der ehemaligen Kommunisten sowie die Finanzkrise 2008 brachten Orbán und die Fidesz mit einem radikal-populistischen Programm in Koalition mit den Christdemokraten 2010 wieder an die Macht - nunmehr mit bequemer Zwei-Drittel-Mehrheit ausgestattet, die ihm die Wähler 2014 und 2018 wieder gewährten. Für ihn ist der Auftrag, das Land so zu verändern, dass die Linken, egal ob in Politik, Kunst, Medien oder Rechtswesen, nie mehr an die Macht kommen können. Seine Vorbilder sind Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan. Das machte und macht ihn zynisch-antieuropäisch, den Traditionen seines Volkes entsprechend magyarophil-nationalistisch. Jedes Mittel muss ihm mittlerweile recht sein, um an der Macht zu bleiben.

Eine Totalreform der EU-Institutionen

Während von der Leyen weiß, dass sie durch die Macht des Gemeinsamen Rates innerhalb der EU-Institutionen, somit im Fall Ungarns durch das polnische Veto, keinerlei wirksame Sanktionsmöglichkeiten hat, ist sie wie gelähmt, ratlos und übergeht dieses Problem. In ihrer selbstverständlichen Ehrlichkeit demonstriert sie damit offen die Schwäche der EU, was dieser nachhaltig noch mehr schaden wird als der aktuelle Corona-bedingte reale, täglich gelebte und von den EU-Bürgern als normal erlebte Neonationalismus, der einen tatsächlichen Rückfall in Charles de Gaulles "Europa der Vaterländer" bedeutet - mit allen Konsequenzen für die Zeit danach. Eine EU, die autoritäre bis diktatorische Regierungen in ihren Reihen duldet - Ungarn wird nicht alleine bleiben -, wird es schwer haben, in Zukunft innen- wie außenpolitisch als glaubwürdig, vertrauenswürdig, noch dazu als einiger Akteur in der multipolaren Welt ernst genommen zu werden. Für Russland, China, die Türkei und andere starke Player sind dann Tore geöffnet, ins Innere der EU einzudringen.

Dagegen müsste sofort etwas geschehen: Über Antrag des EU-Parlaments wäre die EU-Kommission zu beauftragen, einen kompetenten und auch politisch potenten Arbeitskreis einzusetzen, der erstmals seit der Konferenz von Messina 1955 sich mit einer Totalreform der EU-Institutionen befasst und eine Neubewertung der machtmäßigen Verteilung dieser Institutionen untereinander ausarbeitet. Diese Vorschläge müssten dann nach einer mehrheitlichen Genehmigung im EU-Parlament noch einer EU-weiten Volksabstimmung unterzogen werden.

Wir, die Bürger der Europäischen Union, sollten endlich erkennen, dass wir derzeit an einer Weggabelung stehen. Wir haben die Wahl zwischen einem losen, politisch und ökonomisch schwachen "Europa der Vaterländer", wie es für Rechtspopulisten gerade noch akzeptabel ist, oder aber einer erneuerte, innen- wie außenpolitisch handlungsfähigen Europäischen Union in der aktuellen multipolaren Welt. Dazu aber müsste zumindest der Gemeinsame Europäische Rat zu einer lediglich die EU-Kommission beratenden Institution werden.