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Das Fundament der Zweiten Republik

Von Alfred J. Noll

Gastkommentare

Die Unabhängigkeitserklärung von 1945 hat eine entsetzliche Leerstelle.


Als sich am 23. April 1945 in der Wiener Wenzgasse bei Karl Renner für die Sozialisten Paul Speiser und Adolf Schärf, für die Kommunisten Franz Honner, Ernst Fischer und Johann Koplenig und für die Christlichsozialen Leopold Kunschak trafen, hatte man schon einige Gespräche geführt - allerdings vergeblich. Jetzt sollte es klappen. Und tatsächlich wurde bei dieser Besprechung ein einmütiger Beschluss gefasst. Nun wurde beschlossen, ganz Österreich gegen den Faschismus aufzurufen, die Wiedergeburt der Republik zu verkünden und Österreichs Selbständigkeit und Unabhängigkeit wiederherzustellen.

Gleichzeitig wurde in diesem Gespräch schon die Provisorische Regierung vereinbart, mit Karl Renner als Staatskanzler und seinen drei Stellvertretern Adolf Schärf, Leopold Figl und Johann Koplenig. In der Regierungserklärung hieß es dann: "Nunmehr haben sich ausnahmslos alle antifaschistischen Parteirichtungen, die Sozialdemokraten, die Sozialrevolutionäre, die Christlichsozialen, die Kommunistische Partei, der antifaschistische Teil des Landbundes, damit alle Klassen und Berufsstände, Arbeiter, Bauern und Bürger, zusammengefunden, um eine Provisorische Staatsregierung einzusetzen . . ." Ganz im Sinne dieses Einverständnisses wurde gefordert: "Vertagt allen Streit der Weltanschauungen, bis das große Werk gelungen ist! Und folgt in diesem Geiste willig eurer Regierung!"

Eine anti-deutsche Erklärung

Am 29. April dann wurde im Stadtratsaal des Wiener Rathauses die Provisorische Regierung konstituiert, man zog am zerbombten Burgtheater vorbei zum Parlament, und Renner sagte von der Tribüne des kleineren Sitzungssaals herab: "Diese Ruinen sind ein Sinnbild des Schicksals, das unserem ganzen Volk und Lande zuteilgeworden ist, von seiner großen Mehrheit ungewollt, dem ganzen Volke unverdient (...) Und so grüßen wir in tiefster Erschütterung dich, altehrwürdiges Haus der Volksvertretung, heute mit dem Gelöbnis, diese Ruinenstätte zu säubern und zu entsühnen und wieder zum herrlichen Tempel der Freiheit neu einzuweihen ..."

Große Worte. Dem Augenzeugen Ernst Fischer entfuhr nachträglich der Seufzer: "Falsches Pathos in echtes Gefühl, die Phrase in Treu und Glauben getaucht, der Redner überwältigt vom Wortschwall seiner Rhetorik, O Weihestunden der Banalität, altehrwürdige Geschwollenheit, barocke Tradition!"

Auch die Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 ist nicht gänzlich frei davon. Um sie aber gerecht zu bewerten, sollten wir zumindest die nachfolgenden Faktoren berücksichtigen: Die Betonung der Unabhängigkeit Österreichs war gegen Deutschland gerichtet. Vergessen, verdrängt und auch denunziert sollte werden, was es in der Ersten Republik an "Anschluss"-Sehnsüchten gegeben hatte. Vergessen werden sollte vor allem auch, dass doch gerade Renner 1938 den "Anschluss" an Deutschland begrüßt hatte. Die Betonung der Unabhängigkeit Österreich war eine Erklärung gegen Deutschland - und ein Auftrag zur Selbstvergessenheit. Von allem Anfang an war Renner bemüht, seine Autorität und sein gutes Verhältnis zu den Russen deutlich zu machen. Noch am 26. April hatte er bei einem Abendessen bei Marschall Fjodor Iwanowitsch Tolbuchin sein Glas zu einem Toast erhoben und ausgerufen: Zwar wisse man, dass er selbst ein Mann des Westens sei; der Westen aber bringe Österreich wenig Interesse entgegen. Ganz anders die Sowjetunion - Österreich werde sich also künftig auf sie hin orientieren, und er als Staatskanzler werde der treueste Garant dieser politischen Orientierung sein. Es lebe die ewige Freundschaft zwischen Österreich und der UdSSR! Kein Wunder, dass Tolbuchin die Mitglieder der künftigen Provisorischen Regierung am 27. April empfing und ihnen Unterstützung zusagte.

Anbiederung an die UdSSR

Hatte der westlich orientierte Renner die Russen reingelegt? Kurze Zeit später wollte er von einer Bindung an die Sowjetunion ja nichts mehr wissen. Diese Anbiederung an die Sowjetunion war wohl nicht einfach Ausdruck jenes "Geistes der biederen Verlogenheit", den Friedrich Adler im Mai 1917 vor Gericht an Renner gebrandmarkt hatte. Es war nicht bloß "der Geist der Prinzipienlosigkeit" und der "Geist der Gaukelei", den Renner hier zum Ausdruck brachte - es war auch und gerade die Fähigkeit Renners, in einer bestimmten heiklen Situation für Österreich das Beste herauszuholen.

Vor diesem Hintergrund müssen wir auch die Unabhängigkeitserklärung lesen. Es mischen sich hier Verdrängung und Geschichtsklitterung mit wahrhaftem Erneuerungswillen und ehrlicher Absicht zu einem höchst ambivalenten Amalgam. Der eigentliche Inhalt der Unabhängigkeitserklärung ist kurz: Die demokratische Republik Österreich ist wiederhergestellt und im Geiste der Verfassung von 1920 einzurichten (Artikel I); der "Anschluss" 1938 ist null und nichtig (Artikel II); eine Provisorische Staatsregierung wird eingesetzt (Artikel III); alle dem Deutschen Reich gemachten Gelöbnisse sind nichtig und unverbindlich (Artikel IV); alle Österreicher stehen ab diesem Tag in einem Pflicht- und Treueverhältnis zur Republik Österreich (Artikel V); und als eine Art Postscriptum lesen wir noch, dass die Staatsregierung Maßregeln ergreifen werde, um jeden ihr möglichen Beitrag zu Österreichs Befreiung zu leisten - man müsse aber feststellen, dass dieser angesichts der Entkräftung des Volkes und der Entgüterung des Landes nur bescheiden sein könne.

Österreichs Opfermythos

Damit hat sich die Zweite Republik ihre erste historische Verfassung gegeben, von diesem Dokument lässt sich die gesamte spätere Verfassungsrechtslage ableiten. Die Unabhängigkeitserklärung ist das verfassungsrechtliche Fundament der Zweiten Republik. Als solches konnte sie sich freilich nie ins öffentliche Bewusstsein Österreichs einprägen. Manfried Welan und ich haben daher von der Unabhängigkeitserklärung als "der Abgelegenen" gesprochen - als für das Verfassungsbewusstsein der Österreicher maßgebliches Dokument konnte sie nie wirksam werden.

So nüchtern wir dies heute feststellen können, so rat- und fassungslos müssen uns aber die vorangestellten Worte der Präambel heute machen: Der "Anschluss" 1938 sei dem Volke Österreichs ausschließlich "aufgezwungen" worden - Österreich sei lediglich ein Opfer, dem der Goldschatz geraubt und dessen Hauptstadt Wien zur Provinzstadt degradiert worden sei; Österreich sei bestohlen worden; und es sei dann durch Adolf Hitler "das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg getrieben (worden), den kein Österreicher jemals gewollt hat, jemals vorauszusehen oder gutzuheißen instand gesetzt war". Das ist nichts anderes als eine nur aus der damaligen Situation heraus zu erklärende einseitige Selbstviktimisierung, die den historischen Tatsachen nicht standhält.

Mit der Unabhängigkeitserklärung verschrieb sich Österreich einem bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wirkmächtigen Opfermythos. Was bis Mai 1945 geschehen war, waren niemals "wir", das waren immer "die anderen". Kein Wunder, dass in der Unabhängigkeitserklärung von der Shoah keine Rede ist, von der Beraubung der österreichischen Juden durch Österreicher und dass sich Österreich über Jahrzehnte hinweg in einem fälschlichen Gefühl der Unschuld wähnte - bis Kanzler Franz Vranitzky 1991 im Nationalrat erstmals Österreichs Mitschuld eingestand.

In der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 können wir heute das Verfassungsfundament der Zweiten Republik erkennen. Wir können daraus auch den politischen Neuanfang ablesen, eine Haltung, die der VfGH später in die Worte kleidete: Der Antifaschismus ist ein grundlegendes Merkmal der wiedererrichten Republik. Das ist das eine.

Aber es gibt auch das andere: Die Unabhängigkeitserklärung hat eine entsetzliche Leerstelle. Wir müssen heute zusätzlich lesen, was Vranitzky am 9. Juni 1993 in einer Rede an der Hebräischen Universität Jerusalem aussprach: "Wir bekennen uns zu allem, was in unserer Geschichte geschehen ist, und zu den guten und schlechten Taten aller Österreicher. So wie wir für unsere guten Taten Kredit fordern, müssen wir für unsere schlechten um Verzeihung bitten - um die Verzeihung jener, die überlebt haben, und um die Verzeihung der Nachfahren der Opfer."