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Einfach irre!

Von Christian Kohlross

Gastkommentare

Vom Schicksal der Vernunft in Corona-Zeiten.


Wer hätte das für möglich gehalten? Die Menschheit sitzt zu Hause und weiß nicht, wie ihr geschieht! Der Sozialstaat sieht sich außerstande, seiner Pflicht zur Daseinsvorsorge nachzukommen und seine Bevölkerung vor elementaren Lebensrisiken abzuschirmen. Unterdessen ein Virus, das tötet und bei denen, die es davonkommen lässt, eine Opferbereitschaft schafft, die in der jüngsten Geschichte ihresgleichen sucht.

Und dabei, als wäre die Lage nicht schon ernst genug, immer noch einige, die von der "Erfindung einer Pandemie" fabulieren (wie der italienische Philosoph und Essayist Giorgio Agamben), während Bestatter in Schutzanzügen Leichen aus den Hospitälern tragen und das seltsame Gefühl längst zur Gewissheit geworden ist: Die Welt ist nicht mehr die, die sie war. Was wäre das alles anders als - genau: irre? "Die Welt ist aus den Fugen" (William Shakespeare), und manch einem ist es dabei, "als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm her" (Georg Büchner).

Und tatsächlich hat ja die Welt, wie viele sie derzeit erleben, eine frappierende Ähnlichkeit mit der Welt, wie sie Menschen erleben, die an einer Psychose erkrankt sind: in ihrer plötzlichen Fremdheit, in der Bedrohung, die von einer ihr innewohnenden, unsichtbaren Macht ausgeht, in dem Orientierungsverlust, den sie hervorruft, und in der Isolation, mit der sie erfahren wird.

Ist die Moderne anein Ende gekommen?

Sich vor den Zumutungen einer irren Welt, in der irre Naturgewalten zerstörerisch walten, dennoch mit kognitiven wie naturwissenschaftlich-technischen Mitteln zur Wehr zu setzen, an einer irren Welt also gerade selbst nicht irre zu werden, sondern sie durch eine Anspannung von Verstand und Vernunft dennoch zu bewältigen, dafür steht das Projekt der Entzauberung der Welt: die Moderne.

Nun aber spricht vieles dafür, dass mit dem Coronavirus diese Moderne an ein Ende gekommen, die Welt in diesen Wochen und Tagen aufs Neue unheimlich geworden ist. Denn während sich die maliziöse Wirkung des Virus auf den menschlichen Körper früher oder später wird kontrollieren lassen, sind die Folgen für das Seelenleben der Weltgemeinschaft derzeit kaum abschätzbar. Es sind die psychischen, nicht die biologischen Folgen der Pandemie, die den Glauben an die rationale Einrichtung der Welt in Frage stellen.

So wird mit einem Mal klar, dass Vernunft, der Motor des modernen Fortschritts, längst nicht mehr zu vernünftigen Lösungen führt: Sie legt nahe, dass zur Rettung möglichst vieler Leben Menschen voneinander isoliert werden, auf unbestimmte Zeit; doch das bedeutet den Zusammenbruch nicht nur der ökonomischen, sondern auch der seelischen Grundlagen des Zusammenlebens. Sie fordert vom Rechtsstaat die minutiöse Überwachung seiner schutzbefohlenen Bürger, doch was wäre das anderes als ein Eingriff in deren Grundrechte - auf lange Sicht gar die Realisierung Orwell’scher Verhältnisse? Und sie überfordert Ärzte und Pfleger damit, wo die Ressourcen knapp werden, darüber zu entscheiden, wer weiterleben darf und wer nicht. Wenn aber die Vernunft zu absurden Lösungen führt und vom Irrsinn ununterscheidbar wird, dann erscheint Leid nicht mehr, wie in der Moderne, als prinzipiell vermeidbar, sondern als unausweichlich. Der Sozialstaat kann seine Bürger nur noch zwischen verschiedenen Arten gravierenden Leids - Isolation, Überwachung, Erkrankung, Tod, Beschränkung der Freizügigkeit - wählen lassen und gerade noch Szenarien schaffen, die unterschiedlichen Entscheidungen Rechnung tragen: Schutzgebiete für die, die sich isolieren wollen, Freiräume für die Mutigen sowie Medikamente, Schutzmasken und Verhaltensregeln für die maßvoll Risikobereiten. Aber wirklich verhindern kann er das Leid nicht mehr.

Das Wissen ist da - doches wird nicht umgesetzt

Verstärkt wird das daraus resultierende Misstrauen gegenüber staatlicher Ordnung durch eine immer deutlicher zutage tretende unheimliche, geradezu mythische Opferbereitschaft auch moderner Gesellschaften. So waren die Toten im Straßenverkehr, im Mittelmeer oder als Folge der Erderwärmung, um von militärischen Konflikten erst gar nicht zu reden, zuletzt billigend in Kauf genommene Opfer des zivilisatorischen Fortschritts. Sollte das jetzt im Falle der Corona-Toten wieder so sein? Oder werden nun, da unterschiedliche Kriseninterventionen unterschiedliche Sterberaten nach sich ziehen, die physischen, ökonomischen und seelischen Kosten des Fortschritts endlich nicht mehr kollektiv verdrängt, sondern bewusst gegeneinander abgewogen?

Dass in jeder Gefahr auch eine Chance liegt, gilt dabei freilich auch für ein anderes Symptom der ausgehenden Moderne, ihre Dissoziation von Wissen und Handeln. Wie die großen Flüchtlingsbewegungen, die Finanzkrise oder die Erderwärmung ist ja auch die derzeitige Pandemie gerade kein unerwartetes, sondern ein lange - etwa von Bill Gates - vorausgesagtes Ereignis. Die Moderne, heißt das, generiert in einem historisch nie dagewesenen Maße Wissen, gerade auch ein Wissen darum, wie Krisen zu vermeiden sind, aber dieses Wissen bleibt folgenlos. Die Einsicht in das, was zu tun notwendig wäre, besteht; aber es wird nicht getan. Was deshalb zu bleiben droht vom modernen Projekt der Selbst- und Weltermächtigung des Menschen, ist Agonie.

Doch etwas könnte diesmal anders sein. Denn durch die gleichzeitigen radikalen, jeden Einzelnen betreffenden Interventionen der Politik ist es zum ersten Mal in der Geschichte wirklich ein Schicksal, das in ein und demselben historischen Augenblick alle Menschen teilen. In dieser psychischen Mobilisierung der Menschheit aber liegt eine ungeheure Chance - die, dass wir am irren Zustand der Welt nicht selbst irre werden, sondern den für die jüngste Erfahrung der globalisierten Moderne so charakteristischen Zustand der Agonie überwinden.