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Sind wir noch zu retten?

Von Hellmut Butterweck

Gastkommentare

Die Ideen für ein anderes Wirtschaften können nicht von den Regierenden kommen. Dafür ist immer noch die Opposition zuständig.


Nach Corona muss alles anders werden. Corona zwingt uns, unsere Lebens- und Wirtschaftsweise zu überprüfen. Es ist die Chance für einen großen Neuanfang. Das konnte man vor einigen Wochen täglich lesen. Jetzt geht es darum, dass die Flugzeuge wieder starten können. Darum, dass die Menschen ihr Massentourismus genanntes Zerstörungswerk fortsetzen, neue Kleider kaufen und sich möglichst schnell ein neues Auto zulegen. Sonst drohen nämlich noch mehr Arbeitslosigkeit, noch mehr Pleiten und überbordende Staatsschulden. Lieber nicht daran denken, was uns droht, wenn die Verwandlung kostbarer Rohstoffe in Abfall und Wärme nicht wieder auf Touren kommt. Die alten Zwänge haben uns wieder. Die Forderung, anders zu leben und zu wirtschaften als vor Corona, ist trotzdem nicht verstummt.

Corona war nämlich mehr als nur ein erzwungener kurzer Aufenthalt auf der langen Geraden in die Klimakatastrophe. Corona hat auch gezeigt, mit welcher Schnelligkeit und mit welcher Macht der Staat in unser Leben eingreifen kann, wenn es sein muss. Jetzt kann uns keiner mehr erzählen, die Politik habe nicht die Macht, gegen die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen einzuschreiten. Corona hat aber auch gezeigt, dass der demokratische Konsens die unbedingte Voraussetzung für jeden Eingriff in unser Leben und Wirtschaften bildet. Der Pfad zwischen Notwendigkeit und Willkür kann plötzlich sehr eng werden, und die Versuchung, ohne Rücksicht auf Rechtsstaat und demokratische Vorgangsweisen zu handeln, sehr groß.

Die Bevölkerung wird vonder Politik allein gelassen

Millionen Menschen ist völlig klar, dass es einen glatten Hohn auf alle Klimaziele darstellt, wenn das Obst in den Supermärkten aus fernen Kontinenten kommt und der Großteil der tausend Dinge des täglichen Bedarfes aus China und anderen asiatischen Staaten. Sie wissen sehr wohl, dass die Schiffsmaschinen und Kühlaggregate der Containerfrachter Unmengen an CO2 produzieren, auch wenn die Transportkosten in den Preisen keine Rolle spielen. Der Schaden ist bloß nicht eingepreist. Sie verspüren die Folgen, wenn im Gegenzug Europa Arbeitsplätze verliert. Millionen in ganz Europa machen sich darüber ihre Gedanken, werden damit aber von der Politik allein gelassen. Fällt ihr doch einmal ein, dass man etwas dagegen tun könnte, dann wieder nur aus den alten, protektionistischen Motiven.

Wie lange können wir überhaupt noch produzieren und exportieren auf Teufel-komm-raus und den knappen Lebensraum der Menschheit zum Misthaufen einer anschwellenden Ressourcen-Vergeudung machen, während das Klima am Kippen ist? Millionen in ganz Europa gehen solche Fragen zumindest mehr oder weniger diffus durch den Kopf. Und an den greift man sich angesichts des Rätsels, wieso sie von der Politik ausgeblendet werden.

Wir haben eine Welt geschaffen, in der Verbrauch zum Selbstzweck geworden ist. Der Mensch hat die Maschinen erfunden, um sich das Leben zu erleichtern. Heute schreibt er dutzende Bewerbungen, auf die er meist keine Antwort bekommt, damit er arbeiten darf und um immer mehr von dem zu erzeugen, wovon längst übergenug erzeugt wird. Wenn er die entsprechende Ausbildung hat, arbeitet er daran, diesen Prozess zu beschleunigen, damit die Vernichtung der Umwelt nicht hinter der des Kupfers, Mangans, der Seltenen Erden und aller anderen Rohstoffe zurückbleibt.

Eine zutiefstperverse Situation

Nur, weil wir uns daran gewöhnt haben, fällt uns die Perversität dieses Zustandes nicht mehr auf. In der Welt, in der unsere Nachkommen leben werden, wenn wir nicht schnell zu einer Alternative gelangen, würden wir selbst nicht leben wollen. Hat sich irgendwann ein Bug in unser System zu leben und zu wirtschaften eingeschlichen, oder muss es einfach wieder einmal an geänderte Verhältnisse angepasst werden?

Unser Lebensraum ist ein hauchdünner Überzug auf der Oberfläche des Planeten. Auf einem Tischglobus wäre er samt der Luft, auf die alles Leben angewiesen ist, so dünn wie das mit den Kontinenten und Meeren bedruckte Papier. 7,6 Milliarden Erdenbewohner mit einem Energieverbrauch, der 6,9 Tonnen Rohöl pro Kopf und Jahr entspricht wie in den USA, oder bloß 3,9 Tonnen wie in Deutschland (Werte aus dem Jahr 2013 laut dem Statistikportal Statista), hielte das Ökosystem dieses knappen Lebensraumes nicht aus.

Doch keine Macht der Erde kann den Chinesen, Indern und allen anderen verbieten, so leben zu wollen wie wir. Warum sollten sie ihre Ansprüche reduzieren, solange wir, die schon um so viel mehr haben, nach immer noch mehr streben? Müssen nicht, wenn nicht alle Menschen so leben können wie wir, auch wir selbst so leben, wie alle Menschen leben können - oder wenigstens aufhören, den Abstand immer mehr zu vergrößern? Die Wähler wissen oder ahnen, dass es nicht so weitergehen kann, aber die Politik begnügt sich damit, an den Symptomen zu kratzen. Sie weigert sich, ihre Aufgaben in ihrer ganzen Schwere ins Auge zu fassen. Auch das ist eine zutiefst perverse Situation.

Konsum- und Wachstumszwang

Corona und Shutdown haben uns aber auch wieder ins Hirn gehämmert: Weniger wirtschaftliche Tätigkeit bedeutet mehr Arbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit ist aber ein Übel, das nicht nur Wohlstand mindert, sondern auch unmittelbar Elend schafft. Zu dem vielen, das uns Corona gelehrt hat, zählt auch, dass der Konsum- und Wachstumszwang eben doch mehr ist als nur eine schlechte Gewohnheit, von der wir uns, wenn wir nur wollen, jederzeit wieder verabschieden können.

Greta Thunberg hat bewiesen, dass man die Menschen sehr wohl dazu bewegen kann, sich für die Interessen ihrer Nachkommen zu engagieren. Der von ihr ins Leben gerufenen Bewegung fehlt es nur an Ideen, die über den Appell zum ökologisch bewussten individuellen Leben hinausgehen. Denn wohin mit all denen, die arbeitslos werden, wenn wir nicht mehr fliegen, mit dem Rad statt mit dem Auto fahren, tausend Dinge länger nutzen und später wegwerfen und auf tausend andere überhaupt verzichten? So unangenehmen Fragen haben sich auch die Grünen nie wirklich gestellt. Jetzt können wir sie nicht länger vor uns herschieben.

Bloß - wer bringt sie auf die Tagesordnung? Wer motiviert die Wissenschafter aller involvierten Disziplinen, diesen Fragen frei von allen Vorgaben und Tabus auf den Grund zu gehen? Wer hat das nötige Gewicht, sie an einen Tisch zu bringen, der auch ein virtueller sein kann? Wer moderiert einen solchen Prozess, wer garantiert die unerlässliche Transparenz und sorgt für die nötige Resonanz? Die Regierenden werden sich davor hüten. Es ist auch nicht ihr Ressort, sondern das der Opposition. Ist das nicht eine Aufgabe ganz nach dem Geschmack und in der Tradition der Sozialdemokratie, so wie sie einmal war? Und eine Chance für eine tief in der Sinnkrise steckende Partei, sich neu aufzustellen?

Die Probleme jetzt angehen, sonst ist es zu spät

Auch die Neos sollten daran interessiert sein, mit einer politisch brachliegenden Agenda von brennender Aktualität neue Wählerschichten zu erschließen. Selbst auf die Gefahr hin, dass an ihren neoliberalen Positionen gerüttelt wird. Es geht um unsere liberale pluralistische Demokratie mit allen ihren Freiheiten. Sie steht und fällt mit einer Wirtschaft, die so funktioniert, wie sie funktionieren soll. Also einer Wirtschaft, welche die Bedürfnisse der Menschen befriedigt, nicht zuletzt ihr Bedürfnis nach Arbeit und Sicherheit.

Was heute gebraucht wird, ist keine Vision von einem völlig anderen Zusammenleben der Menschen und einer ganz anderen Wirtschaft, sondern die Suche nach den Gründen, warum die Marktwirtschaft derzeit nicht das leistet, was die Mehrzahl der Menschen von ihr erwartet. Was kann der Staat dazu beitragen, dass sie es auf nachhaltige Weise tut? Welche Rolle kann die Zivilgesellschaft dabei spielen? Viele Ökonomen meinen, dass die Maschinenarbeit zu billig und die des Menschen zu teuer ist. Was kann man dagegen tun? Diese Probleme müssen jetzt angegangen werden, jetzt, jetzt und noch einmal jetzt, sonst ist es zu spät.