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Rückkehr der Altersarmut?

Von Bernd Marin

Gastkommentare

Nach mehr als einem halben Jahrhundert abnehmender Altersarmut ist bis 2030 ein neuer Anstieg zu befürchten.


Armut im Alter ist ein besonderes Elend - ausweg- und hoffnungslos, unumkehrbar, auch unverschuldet "lebenslänglich", ohne zweite Chance. Sie bedarf daher großer Aufmerksamkeit, vorausschauend kluger und großmütiger Politik - vor allem aber wirksamer Prävention. Die relative Armutsgefährdung, definiert durch weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens, ist nicht nur über ein halbes Jahrhundert ständig und stark gesunken, sie hat sich erstaunlicherweise ausgerechnet seit dem globalen finanziellen Crash samt Depression nach 2008 erneut um weitere 157.000 Personen verringert.

Das war weithin unerwartet und zeigt, dass sich der Sozialstaat gerade in akuten Krisensituationen durch effektives makroökonomisches Management, automatische Stabilisatoren sowie soziale Sicherung und Armutsbekämpfung bewährt hat. Freilich hat sich die Armutsgefährdung von Einzelpersonen und Älteren (Schwelle unter 1.200 Euro) stärker als die von Eltern mit zwei Kindern (unter 2.500 Euro) verringert und damit eine weitere Verschiebung von Alters- zu verstärkter Kinderarmut ergeben. Trotz weit geringerer Zahl sind um mehr als 50 Prozent mehr Kinder und Jugendliche armutsgefährdet als alte Menschen.

Entscheidend ist aber, dass sich gerade im vergangenen Jahrzehnt nach der größten Weltwirtschaftskrise seit 1933 der Anteil objektiv und absolut armer Menschen mit erheblicher materieller Deprivation - die sich häufig alltägliche Grundbedürfnisse von Heizen über Waschmaschinenbesitz bis zu einer Woche Urlaub im Jahr nicht leisten können - von 5,9 Prozent auf 3 Prozent der Bevölkerung halbiert hat. Das hat seit 2008 zigtausend Ältere, vor allem hochbetagte Frauen aus extrem beengten materiellen Verhältnissen herausgeführt.

Bedürftigkeit inmitten trügerischen Wohlstands

Die Zahl der Altersarmutsgefährdeten in Österreich beträgt etwas mehr als 200.000 Personen, gut zwei Drittel davon sind Frauen. Jede(r) elfte Pensionist(in), jede(r) Siebente über 65 Jahre ist armutsgefährdet. Österreich ist damit zwar im oberen Viertel der EU-Länder in erfolgreicher Armutsbekämpfung, doch nicht unter den Top 3 bis 5 der Mitgliedsländer, wie seine Ambitionen und ein häufig etwas geschöntes Selbstbild als höchst entwickelte Wohlfahrtsgesellschaft nahelegen.

Ein anderer Aspekt der Altersarmut, nämlich gesundheitliche Beeinträchtigung und Benachteiligung, ist in Österreich im internationalen Vergleich hingegen mehr als deplorabel: Wie kann es in Österreich bei genau gleichen Ausgaben für das Gesundheitswesen wie etwa im vergleichbaren Wohlfahrtsstaat Dänemark mit 22 Prozent der Ruhestandsbevölkerung dreimal (!) so viele pflegebedürftige, in ihren täglichen Aktivitäten eingeschränkte und von Betreuung abhängige ältere Menschen über 65 Jahren geben? Dieser auffallende Mangel an gesunden Lebensjahren trotz Langlebigkeit reiht Österreich sogar hinter Griechenland und ist ein Armutszeugnis für die objektiv und subjektiv allerwichtigste Dimension von Wohlfahrt und Wohlbefinden: Gesundheit, Selbständigkeit und Lebenszufriedenheit bis ins hohe Alter. Unerwünschte vorzeitige Abhängigkeit trifft auch finanziell wohlbestallte Rentner(innen) und bedeutet Armseligkeit, Autonomieverlust und Bedürftigkeit inmitten trügerischen Wohlstands.

Aber auch materielle Enge und Not sind bald wieder zurück. Nach Jahrzehnten genau entgegengesetzter Entwicklungstendenzen ist bis Mitte der 2030er Jahre bei einem Anstieg von mehr als zwei auf drei Millionen Pensionisten ein Anteil von bis zu einer Million statt derzeit 200.000 armutsgefährdeten alten Menschen zu befürchten. Hinzu kommt eine verstärkte Feminisierung der Altersarmut - trotz der gegenwärtigen stillen Bildungsrevolution zugunsten der Frauen bei Jüngeren.

Toxische Mischung:Teilzeit und Paschatum

Doch wie ist Altersarmut im Sozialstaat überhaupt möglich? Wirksame Wohlfahrt kann gegen Altersarmut weitgehend, aber eben nicht völlig immunisieren. Das hängt auch mit der Möglichkeit freier, daher nicht immer rationaler und wohlkalkuliert eigeninteressierter Entscheidungen zusammen. Eine Gesellschaft ohne Arbeitspflicht und Impfzwang kann Arbeitslosigkeit und Ansteckung bei Seuchen lindern, doch nicht total eliminieren. So wirkt etwa die über eine Generation hin geradezu explosionsartige Zunahme von Teilzeitbeschäftigungen von rund 100.000 auf mehr als eine Million als derzeit wichtigste Einflussgröße auf spätere Altersarmut - zusammen mit der starken patriarchalen Ungleichverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen den Geschlechtern.

Das Vorherrschen von Teilzeitarbeit gegenüber Vollzeitberufstätigkeit ist nicht bloß auf unternehmerisches Kalkül und entsprechend Arbeitsangebote, sondern durchaus auch auf traditionalistische Präferenzen von Arbeitnehmerinnen zurückzuführen. Selbst bei tatsächlich gleichem Lohn für gleiche Arbeit - wovon Österreich bekanntlich weiter weg ist als 25 der 27 EU-Länder! - bliebe die große Mehrheit der Durchschnittsverdienerinnen bei unveränderten Teilzeitpräferenzen und Erwerbsverhalten weiterhin an oder unter der Armutsgrenze. Nur gut verdienende Teilzeitbeschäftigte mit mehr als 28 Wochenstunden wie etwa Apothekerinnen wären im Alter sicher vor Armut. Der Preis für langjährige Teilzeitarbeit ist also existenziell bedrohlich. Soweit zum "selbstverschuldeten" Anteil der zu 70 Prozent weiblichen Altersarmut.

Doch die Grundursache der - lebenslangen - Benachteiligungen von Frauen in Job und Pension liegt bei uns Männern, nämlich der chronischen, sehr starken, tatsächlich toxischen Ungleichverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen den Geschlechtern. Unsere insgesamt geringere Arbeitsbereitschaft, die insbesondere in traditionellen Gesellschaften mit Vorherrschaft von Haushalts- gegenüber Marktökonomie zu Lasten der Frauen wirkt, zeitigt zudem uneinholbare Nachteile für unbezahlte "Haushälterinnen" im Erwerbsleben.

Trotz deutlich besserer Ausbildung junger Frauen gegenüber jungen Männern bleibt daher die herkömmliche Kluft bei Einkommen, vor allem wegen unterschiedlicher Arbeitszeiten, Beschäftigungsverhältnisse und Karriereverläufe als direkte Folge der starken Ungleichverteilung unbezahlter Arbeit in Haushalt und Familie bestehen. So ist auch bei den PVA-Erstpensionen seit 2015 und bereits bei den Gutschriften auf Pensionskonten seit dem Jahrgang 1992 nach langjähriger Verringerung des Gender-Pension-Gap auf 15 Prozent (Jahrgang 1987) eine erneute Zunahme der Kluft auf 25 Prozent (unter 28-Jährige) bis 39 Prozent (Erstpension 2017) zu beobachten.

Risikogruppen, Politikerfolge und Umschuldungsfalle

Demgemäß scheinen derzeit vor allem die folgenden Personengruppen besonders durch Altersarmut gefährdet: Hausfrauen und gering qualifizierte Erwerbstätige; Langzeitarbeitslose; langjährig Teilzeitbeschäftigte; Erwerbstätige mit langen Berufsunterbrechungen oder sehr diskontinuierlichen Versicherungsverläufen; Alleinstehende, Alleinverdienerinnen und Alleinerzieherinnen; hochbetagte Frauen; geschiedene Frauen mit unzureichenden Unterhaltsansprüchen.

Hat die Politik genug getan, um Altersarmut zu vermindern? Ja, sie war durchaus sehr aktiv und auch erfolgreich in der Verringerung der in den 1950ern noch sehr weit verbreiteten und gravierenden Altersarmut. Und sie hat den Wohlstand für Rentner verbreitert. So hat die Generation der Berufseinsteiger von 1960 mit Individualeinkommen von damals unter umgerechnet 240 Euro im Monat nun als Doppelverdiener-Ehepaar nach der Jahrtausendwende eine Durchschnittspension von 730.000 Euro zu lukrieren.

Das ist eine geradezu schwindelerregend hohe Leistung der Alterssicherung. Für die überwältigende Mehrheit der großteils weitgehend besitzlosen Österreicherinnen und Österreicher sind solche Lebenspensionssummen der bei weitem größte Vermögenstitel ihres Lebens. Da sie freilich sehr weit über den eingezahlten Pensionsversicherungsbeiträgen durch die Anspruchsberechtigten liegen, bedeuten sie auch eine Verschuldung auf Kosten nachfolgender Generationen. Umverteilung nach Altersgruppen hat in Österreich bis zur Jahrtausendwende fast ausschließlich zugunsten der über 60/65-Jährigen stattgefunden, wobei dieser allgemeine Trend in Österreich noch weit ausgeprägter zugunsten der Älteren und zu Lasten der jüngeren Bevölkerungsgruppen war als in anderen OECD- und EU-Ländern.

Rezepte zur Bekämpfungder Altersarmut

Im türkis-grünen Regierungsprogramm gibt es dazu die stolze (und - wie der Sozialminister, der das Kapitel nicht ausverhandelt hat, sehr wohl weiß - vermutlich unerreichbare) Ambition, "den Anteil Armutsgefährdeter im ersten Schritt zu halbieren". Unter anderem soll mit verbindlicherem Pensionssplitting eine seit Jahrzehnten auch von mir erhobene Forderung endlich umgesetzt werden. Bisher wurde bei einer Scheidung der Vermögenszuwachs in der Ehe geteilt, nicht aber die Pensionsrechte als größter Vermögenstitel im Leben der meist Besitzlosen. ÖVP und Grüne wollen die bisherige Default-Regelung umdrehen, von Opting-in zu Opting-out: Bisher musste ein Splitting beantragt werden, was schon aus Unkenntnis kaum geschah. Künftig müssen beide eine zeitweilige partnerschaftliche Teilung der Pension aktiv ablehnen. Das sichert Frauen und Männer ab, die auf eine "bessere Hälfte" an Einkommen zählen können, also die überwältigende Mehrheit.

Was sonst hilft Frauen beziehungsweise dem jeweils sozial schwächeren Geschlecht - und was nicht? Bereits umgesetzt wurden unter anderem geschlechtsneutrale oder Unisex-Sterbetafeln und großzügige Hinterbliebenenregelungen, also Witwe(r)n-Pensionen, was eine effektive Umverteilung zu langlebigeren Frauen in der Größenordnung von etwa 25 Prozent in Österreich bedeutet; großzügige additive Kinder-(Pflege-)Ersatzzeiten (über 1.500 Euro zusätzliche Bemessungsgrundlage) sowie eine bedarfsorientierte Mindesteinkommenssicherung und Ausgleichszulagen, die derzeit immer noch zu rund 70 Prozent einkommensschwächeren Frauen zugutekommen.

Das vom EuGH vorgeschriebene gleiche, geschlechtsneutrale Pensionsalter von Männern und Frauen wurde hingegen auf insgesamt 40 (!) Jahre Übergang bis 2034 vertagt. Das begünstigt Frauen nur scheinbar, benachteiligt sie aber objektiv: doppelte Diskriminierung am Arbeitsmarkt und in der lebensbegleitenden Fortbildung, bei Frühverrentung, erhöhtem Risiko der Altersarmut etc. Verbindliches Pensionssplitting ist zwar kein Patentrezept gegen jegliche Altersarmut, aber doch eine wirksame innerfamiliäre Umverteilung. Das Armutsrisiko für Frauen (und einkommensschwache Männer) wird geringer, ihr Pensionsniveau erhöht sich ganz allgemein. Und das Familieneinkommen über den gesamten Lebenslauf wird durch die Übertragung von Anwartschaften von kurzlebigeren Männern zu langlebigeren Frauen und Witwen insgesamt erhöht.

Das kostet mehr. Es ist aber - im Gegensatz zu den, wie Walter Pöltner, der Leiter der Alterssicherungskommission, es nennt, "verantwortungslosen und arbeitnehmerfeindlichen" erneuten "Hackler"-Boni - eine sinnvolle Humaninvestition im Pensionsbereich.