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Hochschulen mit beschränkter Hoffnung

Von Josef Oberneder

Gastkommentare

Die unzeitgemäße Utopie der unbedingten Universität und der Mittelweg zwischen Selbstüberschätzung und -aufgabe.


Aktuelle, Corona-bedingte Diskussionen über die Virologen Christian Drosten (Deutschland) und Martin Sprenger (Österreich) zeigen wieder einmal: Die Wissenschaft der Gesellschaft provoziert Fragen, die heute getrost als "Evergreens" gelten können: Was sollen Universitäten beziehungsweise Hochschulen leisten? Was dürfen sich die Gesellschaft und die Steuerzahler von ihnen erwarten? Sowie nicht zuletzt: Welche Freiheit und welche Möglichkeiten der Selbstbestimmung brauchen sie, um diese Leistungen erbringen und diese Erwartungen erfüllen zu können?

In diesem Zusammenhang hat der französische Philosoph Jacques Derrida unter dem Titel "Die unbedingte Universität" eine bedingungslose Freiheit für jedwede öffentliche Äußerung, die der Wahrheitssuche dient, zur zentralen Bedingung für Universitäten erhoben. Dass diese Forderung an das Humboldt’sche Bildungsideal anschließt, ist leicht zu erkennen. Wohl wissend, dass auch dieses noch nie erreicht wurde (und wohl auch nie erreicht werden kann), darf dennoch die Frage nach der notwendigen Freiheit für Universitäten und Hochschulen nicht verstummen, darf der Kampf für diese Freiheit nicht aufgegeben werden - allen politischen und populistischen Entwicklungen zum Trotz.

"Die unbedingte Universität müsste [. . .] der Ort sein, an dem nichts außer Frage steht." Diese Forderung hat Derrida in einem Vortrag im Jahr 1998 nicht umsonst als Utopie formuliert, weil die Universität selbstverständlich nie "von jeder einschränkenden Bedingung frei" sein kann - und es überdies fraglich ist, ob sie dies denn auch wirklich (also mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen) will. Denn das Recht, "alles zu sagen", wird rasch zur Pflicht, und nicht immer halten in der politischen Realität (entgegen dem juristischen Grundsatz des "ultra posse nemo obligatur") die Möglichkeiten mit den Pflichten Schritt.

Eine laufende öffentliche Debatte ist notwendig

Freiheit, das hatte bereits Émile Durkheim festgestellt, "ist nachgerade das Ergebnis von Regulationen", sprich: von Bedingungen, deren Wegfall als scheinbare Freiheit geradewegs in gesetzlose Zustände der Anomie (griech.: a nomós) führt. Souveränität bedeutet demzufolge auch im Fall der Universität nicht Unabhängigkeit (Autarkie), sondern, wie Dirk Baecker für soziale Systeme allgemein formuliert hat, die eigene Abhängigkeit (Heteronomie) autonom zu gestalten, und das heißt: sich eigene Gesetze (autós, nomós) zu geben, die bestimmen, wie man fremden Gesetzen (heteros, nomós) folgt.

Die "unbedingte Universität" wäre jedoch nicht nur eine unmögliche, scheinbar freie, sondern überdies eine unsichere: "Weil sie der Macht fremd, dem Machtprinzip gegenüber heterogen bleibt, verfügt die Universität auch über keine eigene Macht", schreibt Derrida über jene Institution, die "ihrem erklärten Wesen nach ein Ort letzten kritischen - und mehr als kritischen - Widerstands" sein und "die Wahrheit zum Beruf" machen sollte. Möglicherweise macht diese Ohnmacht die Hochschulen aber anfällig dafür, sich mit der Macht gemein zu machen und sich die Einschränkungen der Souveränität über Budgets und Postenbesetzungen abgelten zu lassen.

Universitäten und Hochschulen müssen daher einen Mittelweg finden zwischen der Scylla scheinbar möglicher Unabhängigkeit (Selbstüberschätzung) und der Charybdis durchschaubarer Anbiederung an die Macht der Bildungspolitik (Selbstaufgabe). Daraus speisen sich komplexe Problemlagen, die (außer in utopischen Forderungen) weder eindeutig noch ein für alle Mal gelöst werden können, sondern vielmehr einer laufenden öffentlichen Debatte bedürfen.

Vielleicht trifft es sich daher ganz gut, dass der prominente Soziologe Niklas Luhmann die gesellschaftliche Funktion von Wissenschaft nicht primär über die Feststellung von überprüfbarem Wissen bestimmt hat: Vielmehr sollten Universitäten und Hochschulen ihm zufolge eine Form der kontrollierten Ungewissheitssteigerung produzieren, die es erlaubt, immer wieder neue Probleme so aufzuwerfen, dass diese produktiv bearbeitet werden können.