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Nur Gewinner beim EU-Gipfel?

Von Otmar Lahodynsky

Gastkommentare

Die Ergebnisse der mehr als 90-stündigen Verhandlungen in Brüssel weisen Neuerungen und auch etliche Schwachstellen auf. Aber insgesamt ist es ein starkes Lebenszeichen der EU nach der Schockstarre am Anfang der Covid-19-Pandemie.


Mit 90 Stunden Dauer war es das zweitlängste EU-Gipfeltreffen. Und am Ende schien es lauter Sieger zu geben: Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, die beide statt ihres Vorschlags über 500 Milliarden Euro an Corona-Hilfen letztlich ein 750 Milliarden schweres Hilfspaket für die von der Corona-Krise am meisten betroffenen Länder durchbrachten. Italien und Spanien werden mehr als zwei Drittel von 390 Milliarden Euro an nicht rückzahlbaren Zuschüssen erhalten und so am meisten Geld von den Transfers erhalten. Aber auch Frankreich wird rund 35 Milliarden Euro bekommen.

Anders als früher müssen sie nicht - wie damals Griechenland in der Eurokrise - einen radikalen Sparkurs einführen, aber sie müssen sinnvolle Projekte mit Zukunftstauglichkeit (etwa im Klimaschutz oder bei Investitionen in neue Technologien) der EU-Kommission vorlegen, damit ab nächstem Jahr die Gelder auch wirklich fließen können. Alle anderen EU-Länder werden ebenso Mittel, aber in geringerem Ausmaß, aus der Corona-Hilfe erhalten. Österreich mehr als 3 Milliarden Euro.

Die vier Nettozahler, die sich als "Sparsame Vier" zusammenschlossen - die Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden, plus Finnland -, haben eine Kürzung der vorgesehenen Zuschüsse von 500 auf 390 Milliarden Euro durchgesetzt - dafür wurden die Kredite auf 360 Milliarden aufgestockt. Zudem wurde auf Wunsch des niederländischen Premiers Mark Rutte auch eine Art Vetorecht verankert: Kritisiert ein einziges EU-Land die Reformpläne der anderen, muss im Rat eine "entschlossene Diskussion" darüber erfolgen. Damit kann ein EU-Land die Zahlungen nur einige Monate aufhalten.

Die "Frugalen Fünf" haben für ihre Zustimmung zum Kompromiss deutliche Rabatte bei ihren Beitragszahlungen erstritten: Österreich bekommt etwa mit einem Nachlass von 565 Millionen Euro jährlich viermal so viel wie bisher. Da die Nettozahler den Wegfall Großbritanniens wettmachen müssen - insgesamt 13 Milliarden Euro pro Jahr -, steigen insgesamt ihre Beitragszahlungen deutlich an.

Deutliches Mitspracherecht für die Sparmeister

Und Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz erklärte nach dem EU-Gipfel, die Gruppe der "Frugalen Vier" plus Finnland entspreche gemeinsam etwa dem Stimmenanteil Großbritanniens. Und diese Ländergruppe, die von südlichen Mitgliedsländern und Frankreich scharf für ihre angeblich mangelnde europäische Solidarität gerügt wurde, verschaffte sich Gehör. Vor allem die Reduktion der Zuschüsse um 110 Milliarden Euro geht allein auf ihr Konto. Früher hätten kleinere EU-Länder den Vorschlag der Großen meistens nur abnicken können, jetzt hatten die Sparmeister ein deutliches Mitspracherecht ertrotzt, erklärte Kurz, der beim Gipfel vor allem von Macron und Italiens Premier Giuseppe Conte hart kritisiert wurde.

Auch osteuropäische Staaten präsentierten sich als Sieger. Ungarns Premier Victor Orbán ließ sich daheim feiern: Er habe die Zusage erwirkt, das laufende Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn wegen Verletzung der EU-Grundwerte einzustellen. Obendrein sei auch die Verknüpfung der Rechtsstaatlichkeit mit den EU-Fördertöpfen von ihm, Polen und Slowenien abgewendet worden. Tatsächlich wurde in der Gipfelerklärung festgelegt, dass bei Verletzung der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedsland ein Verfahren anlaufen werde, wobei die qualifizierte Mehrheit ausreichen solle. Details über dieses Verfahren muss die EU-Kommission noch vorlegen.

Also lauter Sieger? Auch die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von einem historischen Tag für Europa. Gemeinsam mit dem mehrjährigen Finanzrahmen (EU-Haushalt) würden in den nächsten sieben Jahren 1,8 Billionen Euro in der EU verteilt werden, ein Großteil davon soll in Zukunftsprojekte und den Klimaschutz fließen.

Die neuen Schulden werden über die EU-Kommission erst ab 2027 bis spätestens 2050 zurückbezahlt werden. Damit es nicht zu Einschnitten beim EU-Haushalt kommt, soll die EU-Kommission eigene Steuerquellen erhalten, darunter eine Abgabe auf Plastikmüll oder eine Digitalsteuer.

EU-Kommission darf erstmals Schulden machen

Dass dabei im Gegensatz zum Vorschlag der EU-Kommission bei Forschungsausgaben, Bildung und auch beim Klimaschutz Abstriche gemacht wurden, kritisieren vor allem Abgeordnete des EU-Parlaments. Einige, darunter auch Präsident David Sassoli, fordern bereits Nachbesserungen beim EU-Budget, ohne die keine notwendige Zustimmung des EU-Parlaments erfolgen werde.

Doch bei aller Kritik am Gesamtergebnis sollte eine Tatsache beachtet werden: Erstmals in der Geschichte der EU darf die EU-Kommission Schulden machen und Kredite auf den internationalen Finanzmärkten aufnehmen. Da jedes Mitgliedsland nur für den eigenen Anteil haftet, kann man aber noch nicht von einer "Schuldenunion" sprechen, die laut EU-Vertrag untersagt wäre. Außerdem hat die EU nach den ersten Monaten der Corona-Krise, in denen die Nationalstaaten einen Aufschwung erlebten, mit den Gipfelbeschlüssen endlich Handlungsfähigkeit bewiesen. Eine Fortdauer des Streits hätte die EU wohl weiter geschwächt.

Bei der Rechtsstaatlichkeit wird es noch auf den Vorschlag der EU-Kommission ankommen. Nach den ersten noch ungenauen Plänen soll es für einen Stopp der Auszahlung von Förderungen an ein Land mit Defiziten bei Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit einer qualifizierten Mehrheit im EU-Rat bedürfen. Betroffene Länder könnten dagegen relativ leicht eine Sperrminorität organisieren.

Aber die EU muss hier Flagge zeigen, auch mit weiteren Artikel-7-Verfahren. Wie sonst kann man glaubwürdig von Beitrittskandidaten die Erfüllung strenger Kriterien bei der Rechtsstaatlichkeit verlangen, wenn eigene Mitgliedsländer straflos dagegen handeln dürfen? Der EU-Gipfel war - wie so oft in der Geschichte der Europäischen Union - ein Kompromiss auf Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners. Aber die EU kann zeigen, auch im immer heftiger geführten Wettstreit mit den USA und China, dass mit ihr weiter zu rechnen ist.