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Trotzen wir der Mitmach-Krise

Von Markus Hengstschläger

Gastkommentare

Für so manche Herausforderungen der Menschheit ist es schon fünf vor zwölf. Es gilt, das Potenzial jedes Einzelnen zu nutzen.


Große Herausforderungen unserer Zeit wie zum Beispiel der Klimawandel, der Einfluss disruptiver Technologien auf unser Leben im digitalen Wandel, Terrorismus, Rassismus, Populismus, die Gefahr eines Atomkrieges oder die Flüchtlingskrise erinnern ganz augenscheinlich und täglich daran, wie dringend neue kreative Ideen und innovative Konzepte auf allen Ebenen gebraucht werden. Und schließlich hat sich noch ein anderer bekannter Begleiter der Menschheit wieder einmal zu Wort gemeldet - eine Pandemie. Das Sars-CoV-2-Virus macht klar, wie unverzichtbar es ist, globale aktuelle Probleme anzugehen. Es hat aber auch gezeigt, wie wichtig es plötzlich sein kann, kleine, vielleicht unter anderen Umständen banal wirkende Probleme lösen zu können. Und es manifestiert sich das Bewusstsein darüber, dass es nun einmal vorhersehbare und unvorhersehbare Anteile der Zukunft - mit allen Übergängen dazwischen - gibt.

Für so manche bereits gut bekannte Herausforderungen der Menschheit ist es schon fünf vor zwölf. Und es kommen mit Sicherheit demnächst andere, heute noch gar nicht bekannte Problemstellungen dazu. Konsequenterweise ergibt sich die Frage, ob die Zukunft heute vorhersehbarer ist, als sie das früher einmal war, oder ob sie weniger vorhersehbar geworden ist. Wird die Zukunft in Zeiten digitaler Revolution und Industrie 4.0, durch globale Vernetzung, nahezu uneingeschränkte Daten- und Informationsverfügbarkeit, Big Data, Predictive Analytics, das Auswerten digitaler Fußabdrücke in Sozialen Netzwerken, Internet of Things und Künstliche Intelligenz immer kalkulierbarer? Oder zeigen uns überraschende Wahlergebnisse, exzentrische Politikerpersönlichkeiten, Finanzkrisen, gesellschaftliche Transformationsprozesse, Fukushima, 9/11, durch Klimawandel ausgelöste, extreme Wetterereignisse oder Viruspandemien immer öfter, wie vuka (volatil, unsicher, komplex und ambivalent) die Welt geworden ist?

Die einen argumentieren, in unserer heutigen digitalisierten Datenwelt seien der einzelne Mensch, Staaten und Unternehmen so transparent, durchschaubar und "gläsern" wie noch nie in der Geschichte unseres Planeten. Die anderen wiederum sprechen schon immer öfter vom völligen Verlust der Vorhersehbarkeit. Globale Einigkeit scheint aber darüber zu bestehen, dass Ausmaß und Geschwindigkeit der Veränderung enorm zugenommen haben. Das Ende der Linearität, exponentieller Wandel und permanent zunehmende Beschleunigung scheinen dazu zu führen, dass jeder täglich immer mehr vorhersehbare Dinge zu erledigen hat, aber sich auch immer öfter und immer mehr mit unvorhergesehenen Entwicklungen und Ereignissen konfrontiert sieht.

Wissen und Kompetenzen

Es scheint fast so, als würden in unserer schnelllebigen Welt sowohl vorhersehbare als auch unbekannte Fragestellungen immer öfter und immer schneller in unserem privaten und beruflichen Alltag aufschlagen. Das schafft für die Zukunft der Gegenwart natürlich Chancen, schürt aber auch Ängste. Wie bereitet man sich und die nächsten Generationen darauf vor?

Ob im Kleinen oder im Großen, für die Lösung eines ganz bestimmten Problems bedarf es zuerst einmal des Erwerbes des dafür entsprechenden Wissens und des Aneignens der dafür spezifisch relevanten Kompetenzen. Das allein führt aber noch nicht zu einer neuen Idee oder einer kreativen Lösung. Dafür muss der wissende Mensch neue Wege beschreiten, motiviert Extra Miles gehen und schließlich auch mutig handeln. Die Voraussetzungen dafür entstehen allerdings immer nur dann, wenn das wichtigste angeborene und genetisch mitbestimmte Potenzial des Menschen - seine Lösungsbegabung - entwickelt und laufend abgerufen werden kann.

Als Begabung bezeichnet man das auch genetische sowie frühkindlich mitgeprägte Potenzial eines Menschen, das nur durch Wissenserwerb und Übung in beobachtbare Leistungen überführt werden kann. Es gibt zum Beispiel ästhetische, interpersonale, intrapersonale, logisch-mathematische, musikalische oder sprachliche Begabung. Ich spreche von jener Begabung, die zur Umsetzung und Anwendung kommen muss, um ein Problem zu lösen oder eine innovative Antwort auf eine noch ungeklärte Frage zu entwickeln. Sowohl in der Berufswelt als auch im Privatleben ist es die Lösungsbegabung, ohne die alle anderen Begabungen auf dem Weg zum kreativen Generieren neuer Lösungsansätze vertrocknen.

Dieses Potenzial hat grundsätzlich jeder Mensch. Natürlich spielen Gene dabei eine Rolle. Aber der Mensch ist bei all diesen Aspekten nicht auf seine Gene reduzierbar. Er ist das Produkt der Wechselwirkung von Genetik und Umwelt. Und die aktuellen Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Epigenetik, die die Brücke zwischen sozialen und biologischen Effekten schlägt, weisen darauf hin, dass der Mensch sein Leben und sein Verhalten - und gewissermaßen auch das seiner Nachkommen - noch mehr als früher angenommen selbst in der Hand hat.

Um konkrete kreative Ideen- und Lösungsfindungsprozesse umzusetzen, muss die Lösungsbegabung des Menschen gefördert, entfaltet und immer wieder inspiriert werden. Nur so versetzen wir Menschen uns in die Lage, die vorhersehbaren und auch unvorhersehbaren Probleme der Zukunft zu bewältigen. Und zusätzlich trägt die Umsetzung der Lösungsbegabung in unvergleichbarer Weise zur Persönlichkeitsentfaltung bei. Ob im Beruf oder im Privatleben - was gibt es Spannenderes und Befriedigenderes als eine gute Idee?

Duale Gegenwartskompetenz

Wie kann es also gelingen? Für das uneingeschränkte Erblühen der Lösungsbegabung braucht es in Zukunft eine neue Gegenwart. Es braucht eine neue duale Gegenwartskompetenz mit der Bereitschaft, sich permanent mit bereits voraussagbaren und gleichzeitig mit noch unvorhersehbaren zukünftigen Fragestellungen zu beschäftigen. Erst aus der Umsetzung solch eines dualen Ansatzes entstehen Mut aus Sicherheit, ein gesteigerter Kreativitätsprozess, das Fördern von Schnittstellen zwischen verschiedenen Disziplinen und Kulturen oder auch das Aufrechterhalten der Chancen für Serendipität, also auch etwas finden zu können, was man nicht gesucht hat.

Das Konzept gezielter Förderung von Lösungsbegabung soll Einzug halten in der Bildung, im Talent- und Personalmanagement, in Wissenschaft und Forschung, in der Politik, der Arbeitswelt und in unserem Privatleben. Es muss unser Ziel sein, dass jeder Mensch seine Lösungsbegabung entfalten kann. Vermeiden wir blauäugigen Optimismus und lassen wir uns nicht von biologisch jahrtausendealten Ängsten und Pessimismus bremsen. Trotzen wir der Mitmach-Krise. Machen wir uns und unseren Kindern das Angebot, Ermöglicher zu werden durch ein mutiges, kreatives und kooperatives Sich-Einbringen.