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Mitte und Anstand

Von Michael Bröning

Gastkommentare
Michael Bröning ist Politikwissenschafter und Mitglied der SPD-Grundwertekommission. Er leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in New York.
© Johanna Kosowska

Linke Parteien brauchen eine Rehabilitation des Zentrums.


Überall dort, wo linke Parteien derzeit reüssieren, setzen sie nicht auf Radikalisierung, sondern auf moderate Töne, auf Pragmatismus und auf politisches Augenmaß. Die Liste linker Parteien, die aktuell mit einem Mitte-Kurs erfolgreich sind, erstreckt sich von Dänemark über das Burgenland bis jüngst nach Wien.

Deutlichstes Beispiel sind die USA: Dort steuert Joe Biden mit einem Kurs auf das Weiße Haus zu, der Ambition und Wirklichkeitssinn miteinander versöhnt. Maximalforderungen und radikale Rhetorik scheut der demokratische Präsidentschaftskandidat wie der Teufel das Weihwasser.

So kritisiert der ehemalige US-Vizepräsident rassistische Polizeigewalt zwar in klaren Worten, doch Rufe nach einem "Defunding" der Polizei vernimmt man aus seinem Umfeld keine. In der Bildungspolitik will Biden zwar einkommensschwachen Familien ein Studium ermöglichen, doch der Forderung nach einem grundsätzlichen Aus von Studiengebühren mag er sich nicht anschließen.

In der Einwanderungspolitik verspricht Biden mehr Großzügigkeit. Doch zugleich wird er illegalen Grenzübertritten keinen Blankoscheck ausstellen. Und in Bezug aufs Klima bekennt sich der Kandidat zwar zur Klimakrise, die auf viele Republikaner provokant wirkende Formel vom "Green New Deal" sucht man in seiner Klimaposition jedoch vergebens. Ob Bidens Mitte-Kurs aufgeht, wird das Wahlergebnis zeigen.

Frühere Erfolge dürfte Jacinda Ardern verbuchen. Die neuseeländische Premierministerin stellt sich am kommenden Wochenende zur Wiederwahl und hat eine absolute Mehrheit in Reichweite. Während die Sozialdemokratin Ardern weltweit als progressive Lichtgestalt gilt, ist ihre Agenda in Neuseeland von Pragmatismus geprägt - kombiniert mit kluger Kommunikation beim Attentat von Christchurch und in der Corona-Pandemie.

Insbesondere Arderns Wirtschaftspolitik verortet sie in der linken Mitte. So fordert ihre Labour-Partei eine moderate Anhörung des Mindestlohns und einen leicht erhöhten Spitzensteuersatz. In der Klimapolitik setzt sie zwar auf Reformen, doch eben nicht auf Post-Wachstum oder De-Industrialisierung. Arderns Wahlkampfslogan lautet schlicht: "Let’s keep moving."

Selbst im Vereinigten Königreich setzen linke Kräfte derzeit auf Realismus statt auf Revolution. Nach dem Rücktritt des Links-außen-Vorsitzenden Jeremy Corbyn - und krachenden Wahlniederlagen - richtet sich die Labour-Partei unter ihrem neuen Chef Keir Starmer klar auf die Mitte aus. Den vergangenen Parteitag eröffnete Starmer mit einem Dreiklang aus Familie, Patriotismus und Sicherheit und verkündete: "Wir lieben dieses Land so wie ihr." Bislang scheint es, als
ob diese Liebe erwidert wird: In Umfragen liegt Labour erstmals seit Jahren wieder vorne.

Eine zukunftsfähige Linke sollte sich daran orientieren und den Begriff des Zentrums rehabilitieren. Sicher dürfen linke Parteien nicht mit dem Status quo vermählt sein. Und die Mobilisierung an der Wahlurne benötigt Passion und Enthusiasmus. Doch in Zeiten, in denen die Gesellschaft auseinanderdriftet, ist die Mitte alles, aber kein ideologischer Irrweg.