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Die Veröffentlichung der öffentlichen Meinung

Von Rudolf Bretschneider

Gastkommentare

Warum Straßenbefragungen zwar gerne von Medien eingesetzt werden, aber kein taugliches Mittel sind, um zu ergründen, was die Bevölkerung insgesamt denkt.


© stock.adobe.com/Kuco

Die öffentliche Meinung sichtbar zu machen, ist Gegenstand unterschiedlichster Bemühungen. Intellektuell eher schlicht, aber auch ein Jahrhundert nach der Erfindung der Demoskopie gern geübt: die Straßenbefragung. Praktiziert wird sie auch von Medien, die sich auf die Qualität ihrer journalistischen Arbeit viel zugutehalten. Die Ergebnisse der Interviews tauchen auch (allerdings nur hierzulande) in Nachrichten auf. Der Ablauf: Zwei oder mehr Passanten werden zum Thema x befragt. Personen ohne Meinung scheiden aus, außer die Meinungsverweigerung hat Unterhaltungswert. Meinungen, die einem passen, werden eher übernommen. Wie bei jeder "Dokumentation" erzielt geschickte Auswahl die gewünschten Effekte, zudem kann der Eindruck vermittelt werden, man habe das Ohr am Volk und höher: Die "vox populi" ist ja nach altem Glauben die "vox dei".

Ziemlich lange sonnten sich die Schreibenden aller Länder in der warmen Vorstellung von sich selbst, die richtige öffentliche Meinung sei die veröffentlichte Meinung; was ja insofern stimmte, als die abgedruckten Meinungen theoretisch für jedermann sichtbar waren. Mit dem Aufkommen der neuen Stichprobenmethoden Anfang des 20. Jahrhunderts begannen Zeitungen mit Meinungsbefragungen, die auch der schweigenden Mehrheit eine Stimme geben sollten. Befragungsresultate wurden allmählich zum Gegenstand regelmäßiger Berichterstattung; zunächst im Vorfeld von Wahlen, später, um die Neugier nach den Meinungen anderer Menschen zu befriedigen, gab es Umfragen zu allem und jedem. Die Demoskopen wurden, je nach Charakter, zu Gurus, eingebildeten Wahrsagern, zungenfertigen Analytikern, Adhoc-Kommentatoren oder stillen Beratern - vom arrogierten Nimbus umgeben, mit der jeweiligen "vox populi" aufs Innigste vertraut zu sein.

Meinungen sind unterschiedlich gut begründet

Wenn man sich (wie der Verfasser) mehr als ein halbes Jahrhundert lang mit Meinungen befassen musste, fällt es nicht schwer, ein paar über sie zu haben und die "public opinion", wenn sie durch bloße Zahlen abgebildet wird, als problematischen und unscharfen Begriff zu sehen: Da ist - oft übersehen - die Frage, ob jemand, der interviewt wird, überhaupt eine Meinung hat, bevor man ihn danach gefragt hat. Nicht jeder Mensch ist "opinionated" und kann unter Fragedruck stets eine Antwort abliefern - zum Beispiel aus politischer, journalistischer oder akademischer Überzeugung (männliche Akademiker verweigern bekanntlich seltener die Antwort).

Meinungen sind unterschiedlich gut begründet. Manchmal sind es vage, wandelbare Gebilde, flüchtig wie die Fama; manchmal wachsen sie sich durch lange Einübung zu Überzeugungen und unerbittlichem Fanatismus aus; manchmal hat man sie nur, weil man sonst nicht wüsste, wie man eine Konversation weiterführen sollte, oder auch nur, um entschlossen zu wirken, ohne zu wissen, wozu.

Rudolf Bretschneider ist Sozialforscher. Er war von 1973 bis 2007 Geschäftsführer und anschließend Konsulent von GFK-Austria.
© privat

Aber nicht nur die Festigkeit, mit der man etwas glaubt, dient als Kategorie, mit der die Qualität einer Meinung beschrieben werden kann, relevant kann auch sein, wie wichtig sie dem Meinungsträger ist; weiters ihre Herkunft, ihr Alter, ihre Vernetzung mit anderen Vorstellungen, ihre kognitive Abstützung und gefühlsmäßige Besetzung, ihre Ansteckungskapazität und ihr Dahinschwinden. Selten ermisst man alles.

Es gehört auch die richtige Interpretation dazu

Die Demoskopie ist ein schwieriges Unterfangen, wenn sie die Meinungen nur in Zahlen, Grafiken und Symbolen abzubilden versucht. Es gehört auch die richtige Interpretation dazu. Das Scherz- und Spottwort auf sie hat ein Kenner erfunden: "Öffentliche Meinung - oft demoskopiert, nie erreicht!" Am ehesten kann man die öffentliche Meinung auf Versammlungen in kleineren Gemeinden erfassen, wo Ansichten geäußert, Forderungen erhoben, Urteile ausgesprochen werden und darüber systematisch abgestimmt wird - wie in sehr alter Zeit auch Feldzüge per Akklamation beschlossen wurden.

Das Gerücht, obwohl ebenfalls alt, ist als Ausdruck der öffentlichen Meinung nicht geeignet, obwohl das manche glauben mögen. Es findet zwar seit einiger Zeit seinen Platz in einer Öffentlichkeit, die diesen Namen tatsächlich verdient: im Netz, jedem zugänglich. Allerdings ist die Zahl der anonymen Teilnehmer an der elektronischen Agora bei weitem nicht so hoch, wie von den postenden, diskutierenden, lesenden und schimpfenden Usern aller Art gern angenommen wird. Das Netz als Leinwand für die Bilder der öffentlichen Meinung wird sich noch vielfach wandeln.

Und die Straßenbefragungen in den Qualitätsmedien, der Ausgangspunkt dieser kurzen Betrachtungen, werden sie bleiben? Antwort: Ja, noch lange Zeit. Sie sind so bequem verwendbar wie so viele irreführende Bilder, die sich in den Medien lange erhalten haben - wie zum Beispiel die Altersbilder, die Pensionisten auf der Parkbank zeigen, Tauben fütternd. Straßenbefragungen sind ein wunderbarer Ersatz für gründlich recherchierte Analysen. Sie täuschen fliegende Reporter vor Ort vor und sind doch oft nur eine Präsentation von zufälligen Meinungsfetzerln und Informationskitsch.