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Der "gebremste" Wirtschaftsliberalismus

Von Gerfried Sperl

Gastkommentare

Österreich hat eine lange und kontroverse Geschichte der Ökonomie-Professoren in der Politik.


Obwohl Martin Kocher mit Regierungschef Sebastian Kurz per Du ist und das bereits mehrmals betont hat, stellte er sich als "neutraler Experte" vor, unabhängig von Parteien und Kammern. Die österreichische politische Geschichte seit 1918 ist voll von renommierten Ökonomen, denen die akademische Bühne zu klein war und die daher versuchten, ihre Vorstellungen in der praktischen Politik zu realisieren. Parteimitglieder waren sie selten. Minister kamen und gingen, jene aus der Nationalökonomie blieben meist im öffentlichen Gedächtnis. Neben Bildungsminister Heinz Faßmann, einem Lehrstuhlinhaber für Geografie, ist Martin Kocher der zweite Uni-Professor in einer Regierung, deren Chef kein abgeschlossenes Studium hat.

Kocher hat sein Amt in schweren Zeiten angetreten. Er macht es sich daher nicht leicht. Das gilt auch für viele seiner Vorgänger, die in Krisenzeiten gerufen wurden, Wirtschaft und damit auch Arbeitsplätze in bessere Bahnen zu lenken.

Joseph Schumpeter:
Streit mit Christlichsozialen und Sozialisten

Beginnen wir mit Joseph Schumpeter. Den als Professor von Graz über München nach Harvard gewechselte weltberühmte Wissenschafter, der auch zur Herrenmodeikone wurde, berief Karl Renner im März 1919 als Staatssekretär für Finanzen in sein Kabinett. Schnell geriet Schumpeter sowohl mit Christlichsozialen als auch mit Sozialisten in Streit, vor allem wegen des von ihm forcierten Verkaufs der Mehrheit am staatlichen Stahlkonzern Alpine Montan an Fiat-Castiglioni gegen den heftigen, von den Kommunisten dominierten Widerstand der Arbeiterräte. Der nächsten Renner-Regierung, gebildet im Oktober 1919, gehörte Schumpeter nicht mehr an.

Josef Dobretsberger:
Sozialminister im Ständestaat und Nazi-Gegner

Viel kontroverser war die Rolle von Josef Dobretsberger. Der gebürtige Linzer und Schüler von Hans Kelsen war in Graz dem Cartellverband (CV) beigetreten, obwohl er sich - in den 1920ern noch keine Seltenheit - als Linkskatholik begriff. Mit 30 Jahren kletterte er auf den Lehrstuhl für Nationalökonomie an der Universität Graz, mit 32 Jahren wurde er im Ständestaat Sozialminister. Mit 36 Jahren trat er zurück, weil ihm sein Freund, der jüdische Phoenix-Versicherungschef Wilhelm Berliner, eine luxuriöse Wohnung verschafft hatte. Berliner selbst reiste unentwegt, schlief meistens in Zügen - maximal zwei Stunden. Der prominente Mathematiker und Sprachakrobat löste auch einen Skandal aus, der die europäische Versicherungswirtschaft erschütterte.

Dobretsberger zog sich wieder nach Graz zurück, fungierte 1937/38 als Rektor, um dann Professor in Istanbul und Kairo zu werden - und gleichzeitig Widerstand gegen das Nazi-Regime zu organisieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er erneut für ein Jahr Universitätsrektor. Er näherte sich der KPÖ an und kandidierte mit ihr als "Volksopposition" für den Nationalrat. Anfang der 1950er Jahre trat er öfter in der DDR als Redner auf, weshalb man ihn auch "Sowjetberger" nannte. Das Oppositionelle pflegte er auch aus Lust und Tollerei. 1968 ließ er sich von der neuen Studentenpartei "Aktion" überreden, erneut zum Rektor der Universität ausgerufen zu werden. 1970 starb Dobretsberger.

Wilhelm Taucher:
Handelsminister unter
Kurt Schuschnigg

Völlig unspektakulär verliefen hingegen Leben und Karriere eines anderen Professors für Volkswirtschaftspolitik an der Uni Graz: Wilhelm Taucher. Der 1892 in Fürstenfeld geborene Christlichsoziale arbeitete zunächst in der steirischen Handelskammer, gehörte ab 1934 dem Landtag an und wurde 1936 unter Kurt Schuschnigg Handelsminister. 1938 war für ihn so wie für alle Christlichsozialen Schluss. Als Beauftragter für die Implementierung des Marshall-Plans von 1949 bis 1953 hatte er eine prägende Rolle - neben seiner erneuten Tätigkeit als Universitätsprofessor bis zu seinem Tod 1960.

Reinhard Kamitz: ein
geläuterter Nationalsozialist

Der herausragende finanzpolitische Gestalter der Nachkriegszeit war Reinhard Kamitz (1907 bis 1993). Er hatte zwar nie eine Professur, aber als Leiter des Instituts für Konjunkturforschung von 1936 bis 1938 und als Dozent an der Hochschule für Welthandel erwarb er schnell einen wissenschaftlichen Ruf. Das Institut war 1926 von Ludwig Mises, einem der Begründer der österreichischen Schule der Nationökonomie, gegründet und von Wilhelm von Hajek und Oskar Morgenstern weitergeführt worden. Dieser Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg war von zumindest drei Faktoren geprägt:

Die jüdischen Wissenschafter (vor allem jene in den Wirtschaftswissenschaften und in der Philosophie) hatten Österreich in Richtung Übersee verlassen (müssen). Die wenigsten kehrten wieder zurück, weil sie - unterschwellig - auch nicht willkommen waren.

Österreichs Entwicklung in Richtung Neutralität, verbunden mit einer technologisch darniederliegenden Staatsindustrie, bremste all jene, die westlich vernetzte Innovationen forcierten.

Die Sozialpartnerschaft als Nebenregierung mit ihrer Autonomie als Lohnverhandler sorgte zwar zunehmend für Ruhe am Eisernen Vorhang, aber auch für geistige Lähmung. Erst Mitte der 1960er Jahre lösten sich diese Behinderungen.

Kamitz hatte offenbar begriffen, dass Wirtschafts- und Finanzpolitik nur in enger Kooperation mit dem Bundeskanzler erfolgen konnte. Der "Raab-Kamitz-Kurs" war das Ergebnis dieser Konstellation. Der geläuterte Nationalsozialist konzentrierte sich zunächst auf eine Reduktion der Inflation. 23 Prozent betrug sie zu seinem Amtsantritt, 17 Prozent ein Jahr später und bloß 5 Prozent nach zwei Jahren. Der Preis dafür waren steigende Arbeitslosigkeit und Kreditrestriktionen. Kamitz hatte sich durchgesetzt - gegen die sozialistischen Versuche, den Staatssektor in der Wirtschaft und der Industrie vor allem im Osten des Landes zu vergrößern.

Die von der ÖVP trotz starker Stimmverluste im Frühjahr knapp gewonnenen Neuwahlen und der Beginn der Kanzlerschaft Julius Raabs ermöglichten die Umsetzung des "Raab-Kamitz-Kurses". Die Budgetpolitik nach dem Vorbild des britischen Nationalökonomen John Maynard Keynes wich einer ordiliberalen (heute würde man sagen: neoliberalen) Gangart. Da aber die Gewerkschaften und die SPÖ weiter stark blieben und die Fiskalpolitik mitbestimmten, ist bestenfalls von einem "gebremsten Liberalismus" auszugehen. Dieser war als Weg der Mitte krisenfester. Er führte wie in Deutschland (unter Ludwig Erhard) zur "Sozialen Marktwirtschaft", andere Worte für ein und denselben Liberalismus.

Sozialdemokratische
Alleinregierung ohne Finanz- und Wirtschaftsprofessoren

Unter Bruno Kreisky und dessen Finanzminister Hannes Androsch kehrte Keynes in die Budgetpolitik zurück. Roman Sandgruber beantwortet in seinem Buch "Ökonomie und Politik" die Frage: Austropragmatismus oder Austrokeynesianismus? "Vorrang der Vollbeschäftigung, die bei gleichzeitiger Umstellung auf eine Hartwährungspolitik inflationshemmend sein sollte. Man bezeichnete dies später als Austro-Keynesianismus, eine spezifische Art des deficit-spendung. Die neue Währungspolitik, die die heimische Wirtschaft mit einer faktischen Bindung an die heimische Mark einem starken Anpassungsdruck aussetzte, trat erstmals 1971 in Erscheinung, als das System von Bretton Woods zusammenbrach und es zur Aufwertung des Schilling um etwa 5 Prozent kam."

Mit dem Beginn der 1980er Jahre erlahmte der Aufschwung. Kreiskys Diktum "Mir sind ein paar Milliarden Schulden lieber als ein paar hunderttausende Arbeitslose" funktionierte nicht mehr. Die schwere Rezession der Weltwirtschaft und die Krise der Verstaatlichten leitete das Ende der Ära Kreisky ein. Wie schon die Reformpolitik unter Josef Klaus und Stefan Koren, die eine dann von Kreisky noch forcierte Bildungsoffensive (neue Gymnasien, neue Universitäten) brachte, agierte auch die sozialdemokratische Alleinregierung ohne Finanz- und Wirtschaftsprofessoren. Theorie-Stars wie Ferdinand Lacina wurden Minister, weil sie prononcierte Linke waren. Katholische Linke, wie Stephan Schulmeister, der Sohn des legendären "Presse"-Herausgebers Otto Schulmeister, blieben in Forschungsinstituten geparkt und mussten mit Publikationen bis heute ihre wirtschaftspolitische Kompetenz beweisen. Die Universitäten blieben ihnen als Bühne verwehrt, unter anderem weil Androsch, ein rechter Sozialdemokrat, die Uni-Politik auch nach seinem noch von Kreisky erzwungenen Rückzug aus der Regierung stark beeinflusste. Studentische Revolutionäre waren und sind ihm ein Gräuel.

Mit Martin Kocher kehrt die akademische Welt in die Regierungspolitik zurück. Mit ihm aber auch der gebremste Wirtschaftsliberalismus. Der Marathonläufer und Bergsteiger wird viel Kraft und Ausdauer brauchen, um sich als Arbeitsminister - angesichts des schwachen Finanzministers der eigentliche Budget- und Wirtschaftsminister - Gehör und Durchsetzungserfolge zu verschaffen.