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Die Unsitte der Klubdisziplin

Von Max Haller

Gastkommentare
Max Haller war von 1985 bis 2015 Professor für Soziologie an der Universität Graz. Derzeit forscht und publiziert er im Rahmen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien zu Fragen von Migration und Staatsbürgerschaft.
© privat

Wie unabhängig sind unsere Abgeordneten wirklich?


Das Parlament ist das Zentrum der repräsentativen Demokratie. Jeder einzelne Nationalratsabgeordnete ist sein Repräsentant. Aus dieser Sicht war die Abstimmung am 4. Februar über die Abschiebung von Kindern und ihren Müttern nach Georgien und Armenien problematisch. Bis auf zwei stimmten alle Abgeordneten der Grünen gegen den (eigentlich sehr bescheidenen) Antrag der Opposition, die Regierung möge sich zum humanitären Bleiberecht bekennen und diese Fälle nochmals überprüfen, was wohl eindeutig der eigenen politischen Einstellung der Grünen wie auch des Großteils ihrer Wähler widersprach. Die politische Realität ist leider auch in modernen Demokratien so, dass die Parlamentsmehrheit ihre jeweilige Regierung stützen muss und Klubdisziplin eben ein bekanntes Übel ist. Bei der Abstimmung über das Misstrauensvotum gegen den Finanzminister am Dienstag ging es um mehr: Bei einem Rücktritt wäre eine Weiterführung der Koalition wohl schwer möglich gewesen. Zumal ja gegen den Finanzminister noch keine Anklage erhoben wurde.

Bei anderen vorangegangenen Abstimmungen war das Argument der notwendigen Fraktionsdisziplin dagegen aus mehreren Gründen schwach. Der Kanzler hätte die Koalition wegen eines abweichenden Abstimmungsverhaltens der Grünen, das am Ergebnis nichts geändert hätte, nicht kündigen können. Die Alternative wären wohl der nächste Sturz einer Regierung und eine erneute Koalition mit der FPÖ gewesen, was ihm national und international einen immensen Prestigeverlust beschert hätte. Eine Neuwahl hätte der ÖVP vielleicht sogar einen Stimmenverlust gebracht mit dem Risiko, dass man eine Regierung ohne sie hätte bilden können.

Außerdem kann die Notwendigkeit der Fraktionsdisziplin keinesfalls für alle Parlamentsabstimmungen gelten. Wenn es etwa um grundsätzliche, weltanschauliche Fragen geht, ist sie nicht einzusehen. Nicht selten werden auch Wahlzuckerl mithilfe der Fraktionsdisziplin durchgepeitscht, wo sicherlich viele Abgeordnete nur mit Bauchweh zustimmen. Aus diesen Überlegungen folgt das wichtigste Argument gegen eine bedingungslose Fraktionsdisziplin: Wenn Wähler sehen, dass die von ihnen Gewählten partout nicht jene Ziele verfolgen, für die sie sie eigentlich gewählt haben, spielt dies der bereits massiv verbreiteten Politikverdrossenheit in die Hände. Bei der vergangenen Nationalratswahl waren die Nichtwähler mit 25 Prozent der Wahlberechtigten die zweitstärkste "Partei". Ein Kommentar von "Wiener Zeitung"-Chefredakteur Walter Hämmerle zeigt eine mögliche Ursache dieses hochproblematischen Faktums, nämlich "die Unsitte, dass politische Parteien vor allem Parteigänger nicht nur an die Schaltstellen der öffentlichen Verwaltung platzieren, sondern auch die hinteren Reihen mit treuen Gefolgsleuten besetzen".

Wiederholte Verstöße gegen die Klubdisziplin steigern auch die Chance von Abgeordneten, bei der nächsten Wahl erneut aufgestellt zu werden, wohl eher nicht. Könnten aber öfter nach eigener politischer Meinung und Gewissen entscheiden, würde das Parlament lebendiger, und die Öffentlichkeit hätte größeres Interesse an seinen Sitzungen. Die Partei- und Klubobleute sollten ernsthafte Überlegungen in dieser Hinsicht anstellen.