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Sichtbar mehr Frauen - ohne Perfektionsanspruch

Von Claudia Novak

Gastkommentare

Frauen halten das Fundament unserer Gesellschaft zusammen - fleißig, hart arbeitend, dabei meist unsichtbar. Es geht um die gemeinsame Errichtung einer neuen Gesellschaftsarchitektur.


Lässt sich von Diversität sprechen, wenn zum Beispiel ein Frauenanteil von 30 Prozent verkündet wird, diese Frauen großteils unsichtbare Arbeit im Hintergrund verrichten und gelegentlich von PR-Fotos lächeln? Wo Frauenförderung draufsteht, kann mitunter sogar Sabotage drin sein. Wie nahe sind wir immer noch am Frauenbild der 1960er Jahre? Inwiefern tanzen wir täglich auf einem dünnen Seil zwischen Authentizität und perfektioniertem Entsprechen?

Mein Fokus liegt nicht darauf, was alles schiefläuft und wie sich andere verhalten (sollten). Vielmehr möchte ich Frauen und bestehende Strukturen ermutigen und dabei begleiten, genauer hinzusehen. Meine Vision ist eine ausgeglichene nachhaltige Gesellschaft, in der jeder Mensch unabhängig vom Geschlecht seine Potenziale lebt und zum Ausdruck bringen kann. Dabei setze ich auf die Kraft der Authentizität als Gegenmittel zum omnipräsenten Druck der Perfektion.

Ein Jahr nach dem ersten Lockdown wissen wir, wie sehr Frauen das Fundament unserer Gesellschaft zusammenhalten - fleißig, hart arbeitend, dabei meist unsichtbar. Vor genau einem Jahr habe ich das Coaching- und Beratungsunternehmen WOMEN ON STAGE! gegründet. Für die Gestaltung einer nachhaltigen Gesellschaft braucht es die Stimmen von Frauen nicht (nur) im Kontext privater und beruflicher Innenräume, sondern laut und deutlich im öffentlichen Diskurs und in der Gestaltung unserer gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

Sichtbar werden heißt nicht nur Raum einnehmen auf Bühnen in bestehenden von vorwiegend Männern gestalteten Architekturen. Sichtbar werden heißt gemeinsam neue Räume gestalten, gemeinsam die Architektur unserer Gesellschaft neu denken und vom Fundament an neu errichten. Die Frage nach der Sichtbarkeit von uns Frauen im öffentlichen Diskurs ist nicht nur eine Frage unserer Präsenz auf bestehenden Bühnen, sondern eine Frage der gemeinsamen Errichtung einer neuen Gesellschaftsarchitektur.

Diversität als Schlüssel

"The Future is Female", heißt es auf vielen T-Shirts und in Social-Media-Posts. Das ist ein stimmiger Slogan und geht runter wie Balsam an diesen Tagen. Trotz allem spüre ich in mir Widerstand und bin überzeugt: "The Future is all of us." Ich glaube an die Kraft der Polaritäten, an Perspektivenreichtum und Kompetenzenvielfalt, kurz: an Diversität als Schlüssel für eine nachhaltige Gesellschafts- und Unternehmensgestaltung. Es braucht neue gesellschaftliche Gebäude - gemeinsam errichtet, gemeinsam bewohnt - nicht das stolze Präsentieren von Prozentsätzen und medial inszenierten Bildern.

Wussten Sie, dass Geschlechtergerechtigkeit eines der globalen Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen ist? Die Nachhaltigkeit liegt genau in der Kraft des vollen Spektrums, anstatt aus nur singulären Perspektiven zu agieren. In Zukunft wird der Druck steigen, Frauen besser zu fördern - ich hoffe, nachhaltig im Sinne von echtem "Em-power-ment" und nicht für schnelles "Em-burnout-ment".

Was bedeutet Empowerment, und kann das nach hinten losgehen? Der Trend der Selbstoptimierung in der kollektiven Höchstleistungsspirale lässt so manches Frauenförderungsprogramm als zusätzliches "Must-Do" erscheinen. Erzeugt wird das Idealbild der Powerfrau, die alles schafft, der frau jetzt auch noch gerecht werden soll. So schwingt beim - wenngleich gut gemeinten Empowerment - oft auch der subtile Imperativ mit, noch mehr in noch weniger Zeit leisten zu müssen, um den medialen Inszenierungen der perfekten Power-Frau gerecht zu werden.

Händeringend werden Rolemodels gesucht, erfolgreiche Frauen in der ersten Reihe, in klassisch männlich dominierten Branchen, in Start-up-Hubs, fürs Employer Branding, um einem modernen Unternehmensbild zu entsprechen. Doch je perfekter sich diese Frauen unter dem Druck des Rampenlichts inszenieren, desto einschüchternder, ungreifbarer und unerreichbarer wirken diese Inszenierungen auf den Rest der Frauen.

Was ist Authentizität?

Kann die vielerorts angepriesene Authentizität ein Ausweg sein aus unserem Sichtbarkeitsdilemma? Authentizität. Ein großes Wort, das uns in Zeitschriften, Ratgebern und Online-Kursen als weiteres "Must-Have" angepriesen wird. Ist sie noch ein "To-Do" in unserem Streben nach Perfektion? Oder ist sie sogar das genaue Gegenteil davon, das uns aber viel eher ans Ziel führt?

Authentizität stammt vom griechischen Wort "authentikós" und bedeutet Echtheit im Sinne von "als Original befunden". Das lateinische "origo" heißt Ursprung, Quelle, Stamm. "Original" steht für unverfälscht, vom Ursprung, von der Quelle kommend. Wenn ich medial um mich sehe, sehe ich mehr Kopien als Originale, perfektioniert ausgefüllte Schablonen unserer gesellschaftlich festgelegten Bilder.

Authentizität ist das Gegenteil davon. Authentizität ist der Befreiungsschlag von jeglichem Idealbild. Authentizität ist die Anstiftung zur autobiografischen Revolution gegen das Bedürfnis, es allen recht machen und allen gefallen zu wollen. Authentisch sein heißt nichts weiter als echt sein. Ich empfinde Authentizität als Erlaubnis, ich selbst sein zu dürfen. Es fühlt sich an wie eine Häutung von den vielen Schichten und Masken, die ich mir über die Jahre angelegt habe als Schutz vor Blamage, vor negativen Reaktionen, vor Kritik, vor dem Gefühl, nicht gut genug zu sein.

Der Druck der Perfektion

Unbewusst ging ich davon aus, wenn ich entspreche, bin ich gut. Von meiner Coaching- und Beratungstätigkeit weiß ich, dass ich damit nicht alleine bin, dass es vielen so geht. Die Kraft unserer Authentizität und der Mut zu dieser Echtheit sind die Schrittmacher, die es braucht, für den Weg auf die Bühnen dieser Welt - nicht der Druck der Perfektion, mit dem wir uns selbst im Weg stehen. Perfektion steht per definitionem für die höchstmögliche Vollendung eines Entwicklungsprozesses.

Authentizität orientiert sich am Ursprung: Wer bist Du? Woher kommst Du? Was macht Dich aus? Perfektion setzt bei der Vollendung an. Wer soll ich sein? Welches Bild soll ich erzeugen? Was soll ich darstellen? Ganz gleich, ob es die perfekte Hausfrau der 1960er Jahre war oder die selbstoptimierte Powerfrau von heute ist: Frau entspricht. Frau zeigt sich meist erst, sobald sie dem aktuellen Idealbild entspricht. Ich nenne es das "Vorher noch, aber dann . . ."-Versteckspiel. Vorher mache ich noch eine Weiterbildung, vorher lese ich noch dieses Buch, vorher nehme ich noch fünf Kilo ab, vorher sammle ich noch mehr Erfahrung, aber dann, dann bin ich gut genug, um mich sehen lassen zu können.

Mit dem Fokus auf unsere höchstmögliche Vollendung, wird der jeweilige entscheidende Schritt in die Sichtbarkeit, in die Exponiertheit, in die Verletzlichkeit außerhalb der Komfortzone schier unmöglich und immer wieder hinausgeschoben. Wir haben als Gesellschaft die vergangenen Jahrhunderte damit verbracht, Frauen zu vermitteln, dass ihre Stimme öffentlich nicht von Bedeutung ist.

Die damit verbundenen kulturellen Normen und sozialen Konditionierungen lassen sich nicht von heute auf morgen abschütteln. Sie stecken tief. Sie limitieren uns. Sie führen dazu, dass wir im Vergleich zu Männern besonders selbstkritisch und streng mit uns selbst sind, uns klein machen und unser Licht unter den Scheffel stellen. So viele Bücher wurden nicht geschrieben, so viele Meinungen nicht kundgetan, so viele Erfahrungen, so viele Blickwinkel, so viel Expertise nicht geteilt, so viele Ideen nicht vorgeschlagen, weil die Urheberin dachte, es wäre nicht gut genug. Wir Frauen wurden konditioniert darauf, gefallen zu wollen, möglichst wenig Raum einzunehmen, uns einzuordnen und brave Arbeitsbienen, zurückhaltend und bescheiden zu sein, uns nicht zu sehr in den Vordergrund zu rücken, um nicht unsympathisch zu wirken.

Neue Rahmenbedingungen

Genauso wie es äußere Rahmenbedingungen für unsere Gesellschaftsarchitektur braucht, brauchen wir dringend neue innere Rahmenbedingungen - wie wir mit uns selbst sprechen, wie wir über uns selbst denken, wie wir uns trauen, uns authentisch einzubringen und nicht entsprechend den verordneten Rollenbildern. Allesamt ermöglichen diese äußeren und innerlichen Rahmenbedingungen authentische Sichtbarkeit und echte Diskurse, nicht nur für Frauen übrigens.

Echtes Empowerment funktioniert nicht über den Druck der Selbstoptimierung. Echtes Empowerment ist Bestärkung zur Selbstermächtigung. Echtes Empowerment liegt im Mutmachen zur Authentizität statt im Druck zur Perfektion. Darin sehe ich den Weg in Richtung nachhaltiger Diversität.