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Wie viel Zeit bleibt uns noch?

Von Peter Reischer

Gastkommentare
Peter Reischer ist freier Journalist und Architekturkritiker.
© privat

In Bezug auf den Klimawandel lügen wir uns in die eigene Tasche.


Belügen uns Politiker, Wissenschafter, Zukunftsforscher, Soziologen - also alle Personengruppen, die sich mit der Zukunft der Menschheit und des Planeten Erde befassen? Kann es sein, dass sie schon lange und ganz genau wissen, dass der Kampf gegen den Klimawandel verloren ist? Dass sie nur noch Durchhalteparolen und Scheinhoffnungen aufrechterhalten? Wir belügen uns auch selbst und wollen die Dringlichkeit unserer Probleme nicht wahrhaben.

Zeit ist ein Phänomen, sie ist unfassbar, auch teilweise unvorstellbar. Das ist auch der Grund, warum Menschen nichts mit einer Erderwärmung um 2 oder mehr Grad in 10 oder 20 Jahren anfangen können. Solche komplexe Prognosen oder Prozesse und deren Auswirkungen auf Ökosysteme, Migration, Klimakatastrophen etc. sind schwer vorstellbar. Vor allem für jene, die nur an das Momentane denken und daran, wie sie ihre Macht erhalten, Lobbys weiter befriedigen und dem Profit huldigen können.

Neulich erklärte ein Vertreter des Handels im Radio, die (notwendige) Einführung eines Pfandes auf Plastikflaschen sei "frühestens 2023" möglich. Wir ersticken in Plastik, jeder weiß, dass dessen Überproduktion ein Riesenproblem ist und wie sehr es die Umwelt verschmutzt. Und wir sollen noch zwei Jahre weitermachen wie gewohnt? Welche Vernunft, welche Motive stecken dahinter? Das können doch eigentlich nur das Geld und der Verlust einiger Prozente des Profites sein. Ein Haus brennt - aber wir warten, ob vielleicht nächstes Jahr der Regen den Brand löscht.

Noch schlimmer ist es bei den Sprechblasen der Politiker, wenn sie die - schon mit Geschick und künstlich in die Zukunft lizitierten - Ziele der Begrenzung des Schadstoffausstoßes um weitere 10, 20 oder 30 Jahre verschieben. Der kommende Klimagipfel dient eigentlich nur dem Verbrauch von Kerosin und dazu, einigen Personen einen Städteflug nach Glasgow zu ermöglichen.

Auch die Architektur tut das ihre, um nichts zu verändern. Seit 40 Jahren warnen Wissenschafter vor dem Klimawandel. Lobbys wie Zementindustrie oder Styroporerzeuger haben immer mehr und abenteuerlichere Argumente und verharmlosen. Am Anfang war es Greenwashing, heute redet man von ökologischem Zement, kühlem und wohnlichem Beton, Styropor, das zu
100 Prozent recyclebar, praktisch, langlebig, kostengünstig, massentauglich ist. Ja, Styropor ist alterungsbeständig und verrottungsfest - man hat ein Produkt, das 100 Jahre funktioniert. Aber will oder braucht man das? Es kann niemals in den natürlichen Kreislauf retourniert werden, und der "Earth Overshoot Day" - ab dem wir auf Kredit leben - ist jedes Jahr ein paar Tage früher (heuer am 29. Juli).

Ende 2020 wären die neuen, schärferen Klimaziele, zu denen sich (fast) alle Vertragsstaaten des Pariser Klimaabkommens verpflichtet hatten, vorzulegen gewesen. Doch nicht einmal die Hälfte reichte neue Klimaschutzziele ein (Österreich auch nicht). Damit steuert die Welt auf eine globale Erwärmung um 3 Grad zu, warnt die UNO. Das angestrebte Ziel von 2 oder gar 1,5 Grad scheint bisher unerreichbar. Das sind Fakten. Jedem Politiker ist klar, dass wir es so nicht schaffen, den Planeten vor dem Kollaps zu retten. Eigentlich dürfte kein Architekt es mehr mit seinem Gewissen vereinbaren können, weiter auf Beton, Stahl und Dämmstoffe aus Erdöl zu setzen. Aber es ist eben nicht opportun, die Wahrheit zu sagen, das kostet vielleicht Wählerstimmen und Aufträge. Und die Wähler - also wir alle - wollen lieber gute Nachrichten als schlechte. Also lügen wir uns in die Tasche mit dem Glauben, wir würden (vielleicht) 2050 - oder auch später - energieneutral sein. Dass "ein bisschen weniger schädlich" schon ein Beitrag sei und wir Zeit (wofür?) gewonnen hätten. Bloß ist es dann sicher schon zu spät, denn so viel Zeit haben wir nicht mehr.