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Politik mit fehlendem Dosenöffner

Von Stefan Schleicher

Gastkommentare
Stefan Schleicher ist Professor am Wegener Center für Klima und globalen Wandel an der Karl-Franzens-Universität Graz.

Wird die Wirtschaft nicht transformiert, bleibt das Klimaziel eine Fiktion.


Ausgehungerte Schiffbrüchige finden auf einer einsamen Insel eine rostige Konservendose, können diese aber nicht öffnen. In ihrer Not kommt von einem der Gestrandeten - einem Ökonomen - der Vorschlag: "Nehmen wir an, wir hätten einen Dosenöffner."

So geht einer der Witze über die Kompetenz der Ökonomen.

Wie der Psychoanalytiker Sigmund Freud in einem Schlüsselwerk erläuterte, haben Witze eine enthüllende Funktion. Sie bewirken Lustgewinn und die Lockerung von Verdrängungen. Für Ökonomen sind sie so etwas wie eine Selbsttherapie. Dafür gibt es laufend Beispiele, vor allem wenn es um die notwendigen Neuorientierungen in der Wirtschaft geht.

Die erste Neuorientierung betrifft den Wettlauf um Ziele. Aufmerksamkeit bekommen die Ansagen über den Zeitpunkt für Klimaneutralität. Die EU setzt diese Markierung bei 2050, Deutschland bei 2045 und Österreich bei 2040.

Ursula von der Leyen kündigte bei der Vorstellung des European Green Deal aber mehr als das Klimaziel an: Sie motivierte für einen "europäischen Mann-auf-dem-Mond-Moment", der nach Strategien sucht, die von Energie bis zu den Menschen viel sorgfältiger mit allen Ressourcen umgehen, und sich dafür radikalen Innovationen öffnen. Niemand soll bei dieser großen Transformation unserer Wirtschaft zu kurz kommen.

Ohne dieses neue Mindset bleibt das Klimaziel eine Fiktion wie der nicht vorhandene Dosenöffner.

Die zweite Neuorientierung stellt fast alle Strukturen infrage, die unseren derzeitigen wirtschaftlichen Alltag prägen. Jede wirtschaftliche Aktivität - von der Produktion bis zum Konsum - wäre wieder den fundamentalen Fragen auszusetzen: Wo, von wem und mit welchen Technologien sollen Güter und Dienste bereitgestellt und für wen soll deren Verteilung stattfinden?

Der Boom beim Bauen für Wohnungen als Spekulationsobjekt ohne Nutzungsabsicht und die Rationierung von medizinischen Leistungen nach Zahlungsfähigkeit signalisieren Fehlentwicklungen. Viele der vom ökonomischen Mainstream dazu gegebenen Empfehlungen erweisen sich als voreilig und von Dosenöffner-Qualität.

Die dritte Neuorientierung fordert alle für die Wirtschaft relevanten Institutionen. Das ist der vielleicht überraschende Inhalt eines vor einem Monat veröffentlichten Dokuments des G7 Economic Resilience Panel, dem auch der Österreicher Thomas Wieser angehört, der frühere Präsident der Euro Working Group und des European Financial Committee. Gefordert wird in diesem G7-Dokument eine radikal andere Beziehung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor, um eine zukunftsfähige, inklusive und resiliente Wirtschaft zu sichern. Unterfüttert wird diese Forderung mit den Erfahrungen von 2008 und 2020, wo die globale Wirtschaft einerseits durch die Finanzmärkte und andererseits durch die Covid-Pandemie nur knapp einem Kollaps entgangen ist.

Statt Politiken der Schadensreparatur - wie jenen für die Finanzmärkte und die Covid-Krise - plädiert dieses G7-Dokument für Politiken der Zukunftssicherung. Damit werden viele der bisherigen, auf Deregulierung und Marktliberalisierung setzende Rezepte als Dosenöffner-Syndrome demaskiert.

So eine Wirtschaft: Die Wirtschaftskolumne der "Wiener Zeitung". Vier Expertinnen und Experten schreiben jeden Freitag über das Abenteuer Wirtschaft.