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Keiner will einen echten Krieg

Von Max Haller

Gastkommentare
Max Haller (geboren 1947 in Sterzing) war von 1985 bis 2015 Professor für Soziologie an der Universität Graz und ist seit 1994 Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 2006 bis 2009 weilte er mehrfach zu längeren Aufenthalten an Universitäten in Lwiw, Kiew und Charkow, um die dortigen soziologischen Institute beim Aufbau von Curricula zu beraten. In der Folge arbeitete er den Plan für das Forschungsprojekt "The Ukraine - Working Toward National Identity and Integration" aus, für das leider keine Finanzierung gefunden werden konnte.
© privat

Warum wir auf das Säbelrasseln der Großmächte rund um die Ukraine nicht hereinfallen sollten.


Russland konzentriert an der Grenze zur Ukraine so massive Streitkräfte, dass dies nicht anders zu erklären ist als mit der die Absicht einer bevorstehenden Invasion. Die USA senden Soldaten nach Polen, evakuieren ihre Staatsangehörigen und verbreiten genaue Zahlen über die menschlichen Verluste eines Krieges. Großbritannien, Frankreich, Polen und andere liefern Waffen in die Ukraine, um sie in ihrem Abwehrkampf zu unterstützen. In den Wäldern um Kiew führen Zivilisten militärische Übungen durch, um für den bevorstehenden Krieg gewappnet zu sein.

Der EU wird (wieder einmal) Uneinigkeit und Machtlosigkeit vorgeworfen, Deutschland wird der Weichheit bezichtigt, sein neuer Kanzler sei untergetaucht. Dies ist die dominante Geschichte internationaler Medien, die auch in Österreich verbreitet wird. Der ORF zeigt Bilder von Soldaten in den Schützengräben des Donbass. Die Austria Presse Agentur (APA) verbreitet Fotos unseres Außenministers, der sich gemeinsam mit jenen von Tschechien und der Slowakei in Kriegswesten und mit Stahlhelmen zeigt. Damit stellen sie sich klar gegen ihre eigentliche Aufgabe, internationale Konflikte mit diplomatischen, nicht kriegerischen Mitteln zu lösen.

Für viele Kommentatoren ist die wahre Natur des Konfliktes offenkundig. Hier steht eine "neue Allianz der Despoten" gegen Länder, die nicht aus wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen handeln, sondern sich von Freiheit und Rechtsstaat leiten lassen. Der russische Präsident Wladimir Putin ist entweder ein erratischer Autokrat, der bereit ist, die Zukunft seines Landes durch eine Invasion in die Ukraine zu riskieren, oder ein kühl kalkulierender Stratege, der weiß, dass er Belarus auf diese Weise zu einem Vasallenstaat degradieren und die Ukraine zu Neutralitätsvertrag und Gebietsverzicht zwingen kann.

Geschichten dieser Art beruhen nicht nur auf fragwürdigen Annahmen, sondern widersprechen auch jeder politischen Ethik. Dass Putin massives Militär an der Grenze zur Ukraine aufmarschieren lässt, ist zweifellos wahr (auch wenn die von den USA verbreiteten Zahlen darüber zu hinterfragen sind wie ihre seinerzeitigen Meldungen über die Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein im Irak) und auch ernsthaft bedrohlich. Außer Zweifel stehen die Beteiligung Russlands am Krieg im Donbass und das terroristische Verhalten der dortigen Freischärler, das von der Mehrheit der Bevölkerung keinesfalls getragen wird.

Einmarsch in den Donbass nicht ganz unwahrscheinlich

Aber besteht die Gefahr eines Krieges gegen die Ukraine? Wenn ein solcher auch nicht völlig auszuschließen ist, so ist er doch höchst unwahrscheinlich. Warum sollte der kühle Stratege Putin einen solchen Krieg führen? Leonid Breschnew hatte 1968 klare Gründe für die Intervention in der CSSR: Er wollte das Übergreifen der Demokratiebewegung auf die UdSSR verhindern. Ein Krieg gegen die Ukraine, ein Land mit 44 Millionen Einwohnern und einer inzwischen gut ausgerüsteten Armee von 200.000 Mann, würde selbst im Falle eines raschen Erfolges ein riesiges Desaster auslösen. Die Installierung einer prorussischen Regierung würde nicht nur Putins Renommee international massiv schädigen, sondern ihn auch mit einer Hypothek belasten, die noch ungleich höher wäre als jene in Afghanistan.

Was nicht ganz unwahrscheinlich erscheint, ist ein Einmarsch Russlands in den Donbass, was einen weiteren klaren Bruch des Völkerrechts bedeuten würde. Was könnte der Westen dagegen tun? Realistischerweise muss man sagen: Fast nichts. Von wirtschaftlichen Sanktionen weiß man, dass sie noch kein autoritäres Regime in die Knie gezwungen, aber vor allem die Bevölkerungen in Mitleidenschaft gezogen haben. Ein EU-Boykott der Gaslieferungen aus Russland könnte konkret bedeuten, dass die Energiepreise bei uns explodieren und tatsächlich Millionen im Winter frieren müssten. China würde das günstige Angebot überschüssiger Gasmengen aus Russland dankbar annehmen.

Als Nichtmitglied der Nato könnte die Ukraine von dieser keine Unterstützung erwarten. Die USA werden sich hüten, wegen ihr einen neuen Weltkrieg zu riskieren. Die EU ist kein Militärpakt und verfügt über keine nennenswerte Streitmacht. Dennoch fordern viele, die "freie Ukraine" müsse rasch voll in die EU integriert und umgehend in die Nato aufgenommen werden. Für Peter Lingens (im "Falter") scheint dies der geeignete Zeitpunkt, die alte Forderung nach Aufstellung einer eigenen EU-Streitmacht wieder aufs Tapet zu bringen. Er meint, eine Aufstockung des Verteidigungsbudgets der EU-Länder auf 2 Prozent des BIP (eine ständige, deshalb aber nicht sinnvoller werdende Forderung der USA) wäre ökonomisch kein Problem; die nationalen Streitkräfte ergäben zusammengelegt eine EU-Armee von 780.000 Mann, die ein adäquates Gegengewicht zu den 850.000 russischen Soldaten darstellten (wer sagt, dass diese Armee effizienter wäre als die deutsche Bundeswehr, die mit Atomwaffen ausgestattete französische Armee usw.); wenn diese Armee aus Berufssoldaten bestünde, würde die Arbeitslosigkeit reduziert.

Ukraine zwischen Westen und Russland

Alle vorhin genannten Argumente stehen auf schwachen Beinen. Drei Punkte sind besonders zu nennen:

Erstens ist es eine grobe Vereinfachung, den Konflikt um die Ukraine als Auseinandersetzung zwischen dem freien Westen und dem autoritären Russland zu bezeichnen. In seinem Buch "Die Macht der Geographie" zeigt der BBC-Journalist Tim Marshall überzeugend, dass alle Großmächte darauf erpicht sind, in ihrem näheren Umfeld keine von fremden Großmächten abhängigen Staaten zu tolerieren. Dafür werden gegebenenfalls skrupellos alle möglichen Mittel (Sabotage durch Geheimdienste, terroristische Aktionen, militärische Intervention) angewandt.

Dies haben die USA in Mittel- und Lateinamerika seit 100 Jahren immer wieder praktiziert, ebenso Russland und natürlich China (das das weit von Peking entfernte Tibet sogar annektiert hat). Es ist ja bekannt, dass eine Bedingung für die deutsche Wiedervereinigung und den Beitritt der BRD zur Nato die explizite (wenn auch nur mündliche) Zusage war, die Nato werde nicht nach Mittelosteuropa expandieren. Putin hielt im Deutschen Bundestag 2001 eine Rede, in der er unter Beifall der Abgeordneten den Wunsch nach Aufbau vertrauensvoller Beziehungen zwischen Westeuropa und Russland äußerte. 2004 wurden sieben postkommunistische Länder in die Nato aufgenommen. Dass dies geschah, wird von Putin kritisiert, und seine Forderung, die Nato solle sich verpflichten, die Ukraine nicht aufzunehmen, liegt auf dieser Linie.

Zweitens ist auch die Behauptung unglaubwürdig, die Ukraine habe zwischen EU und Russland keine wirtschaftlichen Überlebenschancen. Tatsächlich ist sie mit beiden Wirtschaftsblöcken schon jetzt engstens vernetzt; Russland und EU-Länder (vor allem Polen und Deutschland) gehören zu den wichtigsten Import- und Exportländern der Ukraine. Mehrere Millionen Ukrainer arbeiten in mittelosteuropäischen Ländern (Polen, Tschechien usw.), aber gut 300.000 auch in Russland. Österreich und die skandinavischen Länder haben sich schon vor ihrem EU-Beitritt wirtschaftlich sehr gut entwickelt. Westliche Unternehmen, führend darunter auch österreichische, investieren massiv und mit großen Gewinnen in der Ukraine.

Drittens wird das Verhalten der Regierungen der Ukraine selbst in den aktuellen Diskussionen fast überhaupt nicht thematisiert. Dabei war die "Ukrainisierung" des Landes ab der Orangen Revolution (Euro-Maidan) 2014 der Hauptanlass für die Besetzung der Krim und die militärische Insurgenz im Donbass-Becken. Die Einrichtung einer echt föderalistischen Verfassung mit voller Anerkennung der Rechte des guten Drittels an russischen Muttersprachlern in der Ukraine wäre notwendig. Stattdessen ist gerade ein Gesetz in Kraft getreten, das vorschreibt, dass überregionale Zeitungen auf Ukrainisch erscheinen müssen, Buchläden mindestens zur Hälfte ukrainische Bücher anbieten müssen, Ärzte und Verkäufer ihre Kunden auf Ukrainisch ansprechen müssen, ausländische Filme ukrainisch synchronisiert werden müssen.

Zweifellos sollen Putins Aktionen auch von innen- und wirtschaftspolitischen Problemen ablenken. Aber auch dies spricht dafür, sie nicht mit entsprechender Kriegshysterie im Westen zu beantworten und andere Bemühungen als "unverbindliche Friedensrhetorik" abzuwerten.