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Das Zeitalter der Machtpolitik ist nicht vorbei

Von Manfred Kohler

Gastkommentare
Manfred Kohler ist unabhängiger Forscher und hat als Postdoc-Lektor und Researcher an der University of Kent und der Donau-Universität Krems gearbeitet. Heute widmet er sich als Mittelschullehrer der Zukunft von Jugendlichen.
© privat

Wir werden wieder für unsere Freiheit kämpfen müssen.


Wir alle im sogenannten Westen sind grosso modo überzeugt, dass Konflikte im 21. Jahrhundert im Rahmen eines regelbasierten internationalen Systems friedlich beizulegen sind. Auf dem europäischen Kontinent hat sich dieses Modell auch mit wenigen Ausnahmen durchgesetzt. Oder doch nicht? Der russische Präsident Wladimir Putin spielt seit geraumer Zeit mit seinen militärischen Muskeln und könnte sogar noch die Ukraine in Schutt und Asche legen. Dabei geht er nach dem klassischen macht- und militärpolitischen Drehbuch vor. Auch die Nato ist seit den 1990ern diesem Drehbuch gefolgt, denn heute reicht das Bündnis bis an die russische Grenze, obwohl der Kreml dies immer als rote Linie ansah, auch schon vor Putin.

Der Politikwissenschafter Gerhard Mangott oder auch der US-Intellektuelle Noam Chomsky warnt schon seit den 1990er Jahren davor, dass die Ausdehnung der Nato nach Osten künftig Krieg bedeuten könnte. Schon 2015 erklärte Chomsky in einem Interview mit "Democracy Now", die Ukraine-Krise stelle durch die Nato-Beitrittsperspektive des Landes die derzeit größte Friedensgefahr für die Welt dar. Und jetzt ist es tatsächlich dazu gekommen. All das soll nicht Putins Handeln entschuldigen, nein, er ist ein Lügner, ein Autokrat, ein Desinformationsverbreiter, ein Mörder. Aber wir im Westen sind nicht unschuldig an der Situation.

Dass die Nato bis zum 24. Februar 2022 an einer nicht ernst gemeinten Beitrittsperspektive der Ukraine festhielt, hat sicher zur Eskalation beigetragen. Mehr noch, die Ukraine stand ganz alleine da. Der diplomatische Weg zu Verhandlungen über eine Neutralität der Ukraine wurde gar nicht erst eingeschlagen. Normalerweise ist es die Aufgabe der Diplomatie, alle Schritte zu unternehmen, um eine Eskalation zu verhindern. Das wurde nicht gemacht - ein großes Versäumnis! Manche werden jetzt sagen, die Ukraine wolle doch nicht neutral sein, sondern Nato-Mitglied. Jenen ist allerdings zu entgegnen, dass auch die immerwährende Neutralität Österreichs keine so freiwillige Sache war, wie sie heute dargestellt wird. Sie war Grundbedingung der Sowjets dafür, dass Österreich überhaupt wieder unabhängig sein konnte.

Jetzt solidarisieren sich alle im Westen und liefern Waffen und vieles mehr, viel zu spät übrigens. Für die Ukraine und die Freiheit Europas einzugreifen, fällt aber keinem ein. Aber genau das werden wir tun müssen, das wird auf uns Europäer und den gesamten Westen zukommen. Wir werden wieder für unsere Freiheit kämpfen müssen.

So traurig das ist, so widerwillig ich auch die Gefahr eines größeren Krieges auf europäischem Boden sehen will, so sicher ist es aber doch, dass Putin und seine autoritären Mitstreiter mehr wollen; nein, sie wollen alles, eine komplette weltpolitische Neuordnung. In der es nicht mehr viele gleichberechtigte, souveräne Staaten gibt, sondern in der ein paar Raufbolde den Ton angeben. Was kann man gegen ein paar Raufbolde tun? Sich zusammenschließen und sie zur Hölle jagen. Der Gebrauch von Gewalt ist schließlich laut UNO-Charta zur Wiederherstellung des Friedens möglich und manchmal auch nötig, ob nun im UN-, Nato oder EU-Rahmen. Wer den Knopf drückt, nimmt ohnehin alle und sich selbst mit. Nur naiv dürfen wir nicht mehr sein.