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Der erste Krieg des Social-Media-Zeitalters

Von Alexander Dubowy

Gastkommentare
Alexander Dubowy ist Forscher im Bereich Internationaler Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum.
© Prokofief

Wir erleben gerade eine unheilvolle Symbiose aus ausufernder Gewalt und wirklichkeitskonstituierenden Informationen.


Die Geschichte des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine wird von den kommenden Generationen geschrieben werden. Gewisse Aspekte sind aber schon aus heutiger Perspektive in ihren Grundzügen erkennbar. Ähnlich wie der Krim-Krieg noch vor dem Ersten Weltkrieg als erster moderner, industrieller Krieg bewertet werden kann, wird wohl der russisch-ukrainische Krieg retrospektiv betrachtet als erster Krieg des Sozial-Media-Zeitalters in die Annalen eingehen.

Der wesentliche Unterschied zu früheren Konflikten besteht darin, dass der russische Angriffskrieg über Soziale Medien (vor allem Telegram) ohne eine wesentliche Zeitverzögerung miterlebt werden kann. Dies bietet einerseits einen direkten Draht zum Kriegsgeschehen und ermöglicht einen scheinbar ungefilterten Blick auf die Ereignisse vor Ort, andererseits aber besteht angesichts ausufernder Informationen kaum eine reale Chance, Fakten von Fakes zu unterscheiden - ein Faktencheck ist nur begrenzt möglich. Somit entfaltet sich vor unseren Augen das doppelte Antlitz des modernen Krieges als unheilvolle Symbiose aus ausufernder Gewalt und wirklichkeitskonstituierendem Informationsstrom, wobei die Informationsdimension des Krieges die Kampfhandlungsdimension in der öffentlichen Wahrnehmung klar überlagert, verdrängt, ja letztlich ersetzt.

Psychologischer Krieg der Zahlen

In diesem Informationskrieg gibt es einen klaren Sieger: die Ukraine. Gleich am ersten Tag der russischen Invasion übernahm Kiew die Führungsrolle an allen Informationsfronten und schaffte es dadurch, die militärische Ebene schnell in den Hintergrund zu rücken. Seit den ersten Kriegstagen leben wir im ukrainischen Narrativ. Doch wird das eigentliche Kriegsgeschehen durch die Informationsdimension entscheidend verzerrt. Letzteres erschwert eine auch nur ansatzweise objektive Analyse der militärischen Dimension, verunmöglicht belastbare Vorhersagen über den Verlauf des Krieges und lässt lediglich den Raum für eine grundsätzliche Einordnung zu.

Aktuell ist selbst eine auch nur ansatzweise adäquate Einschätzung der militärischen Verluste beider Seiten kaum möglich. Dafür weichen die offiziellen Zahlen zu stark voneinander ab. Den Schätzungen westlicher Militäranalysten zufolge dürften insbesondere die ukrainischen Verluste ungleich höher sein. Die meisten Analysten stimmten darin überein, dass beide Seiten in etwa vergleichbare Verlustraten in Höhe von 10 bis 15 Prozent zu beklagen haben. Die "Financial Times" zitiert anonyme Nato-Quellen, angesichts hoher Technikverluste auf ukrainischer Seite seien westliche Waffenlieferungen absolut entscheidend. Ohne diese sähe die militärische Lage deutlich anders aus. Diese Einschätzungen gemeinsam mit der Tatsache, dass jeder militärische Verlust der Ukraine faktisch unwiederbringlich ist, während Russland Verluste noch deutlich unproblematischer ausgleichen kann, zeichnet ein realitätsnahes und deutlich düsteres Bild des Kriegsgeschehens.

Russland ist weiterhin militärisch am Vormarsch

Die militärische Lage dürfte für Russland zwar tatsächlich herausfordernd sein, jedoch weit weniger katastrophal, als es den durch die unzähligen Informationen aus den Sozialen Medien konstruierten Anschein erweckt. Auch wird gern übersehen, dass Russland über reale und hochgradig zerstörerische Waffensysteme unter der Schwelle der Nuklearwaffen verfügt, die bisher nicht zum Einsatz kamen. In den vergangenen drei Wochen hat der Kreml eindrucksvoll bewiesen, dass er bereit ist, nicht nur rücksichtslos zu handeln und Kollateralschäden in Kauf zu nehmen, sondern auch mit ausufernder Gewalt direkt gegen die Zivilbevölkerung vorzugehen, um den Druck auf Kiew und Wolodymyr Selenskyj zu erhöhen.

Aktuell gibt es keine ernst zu nehmenden Anzeichen dafür, dass Russland trotz logistischer Schwierigkeiten die Militäroperation nachhaltig einzuschränken oder gar zu beenden trachte. Ganz im Gegenteil kam es in der vergangenen Woche neben weiteren Truppenverlegungen unter Einbeziehung moderner Militärtechnik und dem Beginn der Rekrutierung internationaler Söldner zu einem verstärkten Einsatz von Aufklärungsdrohnen auf dem gesamten Territorium der Ukraine.

Auf militärischer Ebene spricht somit nicht viel für einen Militärerfolg der Ukraine. Zwar haben sich ihre Armee als überaus kampffähig und ihre Bevölkerung als äußerst wehrfähig und -willig erwiesen und den russischen Vormarsch stark verlangsamt, jedoch änderte Russland nach anfänglichen Schwierigkeiten seine Taktik und konzentriert sich jetzt verstärkt auf einzelne Frontabschnitte im Donbass sowie entlang der Schwarzmeerküste. In zwei bis drei Wochen könnte sich die Lage ändern und die russische Armee erneut zu großangelegten Militäroperationen übergehen.

Die Achillesferse der Ukraine bleibt eine zu starke Truppenkonzentration im Donbass. Dort dürfte sich laut unterschiedlichen Angaben ein Viertel bis ein Drittel der gesamten ukrainischen Streitkräfte befinden. Westlichen Militäranalysen sehen hier russische Versuche, diese Kampfverbände von Kiew abzuschneiden, einzukesseln und aufzusplittern. Damit käme Russland einem Militärsieg einen sehr wesentlichen Schritt näher. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass der potenziell schwierige und verlustreiche Sturm Kiews nicht mehr als Priorität betrachtet wird.

Eskalationsoption als Ultima Ratio noch nicht vom Tisch

Russland dürfte in den nächsten Wochen versuchen, die eigene Verhandlungsposition durch konzentrierte Militäroperationen im Donbass zu stärken. Nachdem der Kreml in den Friedensverhandlungen in Belarus nur zu offensichtlich nicht bereit ist, von den ursprünglichen Forderungen wesentlich abzuweichen, ist auch die Eskalationsoption nach wie vor nicht vom Tisch. Solcherart könnte Russland als Ultima Ratio auch den Versuch unternehmen, durch die Intensivierung der Angriffe gegen Zivilisten eine bedingungslose Kapitulation der Ukraine militärisch zu erzwingen. Denn eine Niederlage ist für Wladimir Putin keine Option, sowohl im Hinblick auf die gesellschaftliche Unterstützung als auch aus berechtigter Sorge vor gravierenden außenpolitischen Folgen. Das sind keine guten Aussichten.